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Lieber Herr Willi,

Ihr letzter Brief hat mich tief berührt – und damit meine ich gar nicht mal das, was sie geschrieben haben, sondern das, was es in mir ausgelöst hat: Ihre Theorie über Empathie und die Bedeutung derselben für Kommunikation kann ich eins zu eins unterschreiben (da sind wir uns schon wieder einig). Darüber habe ich mir nämlich auch eine lange Zeit Gedanken gemacht. Damit Sie verstehen, was ich meine, sollte ich vielleicht ein paar Sätze über mich bzw. meine Lebensumstände schreiben – Sie fragen ja nicht, drum werde ich es Ihnen jetzt aufzwingen, denn auch da ergibt sich schon wieder eine Übereinstimmung zwischen uns, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Wie Sie wissen, wohne ich auf dem Land. Und auch, wenn unsere Lebensräume unterschiedlich sein mögen, haben wir doch eines gemeinsam: Wir üben beide Berufe aus, in denen wir eher als Einzelkämpfer unterwegs sind: Sie verbringen die meiste Zeit schreibend vor dem Laptop und ich… ja, ich lebe von den Lebensmitteln aus eigenem Anbau. Natürlich haben wir Kontakt zur Außenwelt: Kunden, Auftraggeber, der Briefträger… aber weder Sie noch ich sind auf ein Team angewiesen. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass wir das Dasein als Einzelkäpfer auch sehr genießen. Aber ist es da nicht paradox, dass wir uns soviel Gedanken um Kommunikation machen. Oder nicht? Oder ist es geradee unsere zur Einzelkämpfertum neigende Persönlichkeit, die uns dazu treibt, über Kommunikation nachzudenken? Zum Beispiel weil wir beobachtet haben, dass im Allgemeinen nicht so kommuniziert wird wie wir uns das wünschen, wir irgendwie enttäuscht sind von der Welt und dem Miteinander und diese Enttäuschung dazu führt, dass wir das Leben so leben, wie wir das tun?
Aber ich sollte hier eigentlich nur für mich sprechen, denn was Sie betrifft, lieber Herr Willi, kann ich ja nur mutmaßen. Bei mir war es definitiv so. Und meine Enttäuschung – oder besser: mein Unmut gegenüber dem oft wenig empathischen Miteinander war es auch, dass mich zu diesem Leben antrieb: Der romantischen Vorstellung vom Leben auf dem Lande, dem Produzieren von Lebensmitteln mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau und dem Verkauf dieser auf dem Wochenmarkt oder über einen Online-Shop gingen viele Jahre Stress und ja, auch Leid voran. Ich habe nämlich nicht immer hier gelebt. Tatsächlich habe ich viele Jahre in der Stadt gelebt. In Ihrer Stadt. In Annemarie’s Stadt. Dort haben Annemarie und ich uns auch kennengelernt. Aufgwachsen bin ich auf dem Land. Und als ich alt genug war, um auszufliegen, hat es mich in die Stadt gezogen. Ich wollte raus aus dieser Einöde und rein ins pralle Leben. Ich wollte Karriere machen. Und das habe ich auch getan: Ich habe viel gearbeitet, mein Ziel immer vor Augen. Ich wollte nach oben. Und dann war ich irgendwann auch oben. Ich habe delegiert, bin viel gereist, habe wichtige Hühner kennengelernt. Das ganze Programm. Ich hatte das geschafft, was ich mir immer vorgenommen und vorgestellt hatte. Merkwürdigerweise fühlte ich mich nie zufrieden. Oder gar glücklich. Im Gegenteil: Ich fragte mich immer häufiger, was mit dem lustigen, lebensfrohen Huhn von damals passiert war. Aber ich schob den Gedanken immer wieder beiseite: Es ist gerade stressig, du arbeitest viel, es wird wieder besser. Und: Du wolltest es doch so. Aber es wurde nicht besser. Ein Projekt jagde das nächste, ich funktionierte einfach nur noch. Und an dem Abend, als ich Annemarie kennenlernte und dieses verrückte, etwas naive Huhn mich daran erinnerte, dass es noch andere Dinge als Karriere gab, stand ich vor dem Zu-Bett-Gehen vor dem Spiegel. Ich blickte mein Spiegelbild an und fragte mich wirklich wie man das häufig in mittelmäßigen Filmen sieht: Wo ist nur das Huhn geblieben? Wann hatte ich das letzte Mal gelacht? Also wirklich gelacht? Ich versuchte mich zu erinnern und dann fiel mir ein, wann und wo: Am letzten Abend auf dem Land. Und plötzlich bekam ich furchtbares Heimweh. Ich fand das unglaublich albern. Heimweh, so ein Quatsch. Reiß dich gefälligst zusammen. Dooferweise kam das Heimweh auch in den kommenden Tagen und Wochen. Und dann in immer kürzeren Abständen. Es ging einfach nicht mehr wirklich weg. Ich überlegte fieberhaft, woran es liegen konnte. Aber ich kam nicht drauf. Ich war genervt von mir selbst und davon, dass meine Leistung abfiel. Ich ging zu einem Therapeuten. Vielleicht ein Burn-Out?
Nach und nach wurde mir einiges klar. Es war ein schleichender Prozess. Nicht so, wie es in genannten Filmen ablief, in denen der Protagonist plötzlich klar sieht, alles über Board wirft, ein neues Leben beginnt und glücklich wird. Nein, es war eine wohlüberlegte Entscheidung. Ein Jahr brauchte ich, um die Entscheidung, wieder auf’s Land zu ziehen, zu treffen. Ein Jahr, in dem ich plante, rechnete, Beziehungen aufbaute. Ich wußte, es würde trotzdem hart werden, aber ich wollte so gut wie möglich vorbereitet sein. Und ein Jahr, in dem ich viel über mich selbst lernte. Zwar nicht so viel, dass ich wusste, was das Unbehagen ausgelöst hatte, aber das war nicht wichtig. Wichtig war, dass ich wusste, was es aufhören lässt. Und so zog ich aufs Land. Back to the Roots. Ich hatte zum Glück einen guten Anlageberater gehabt, so dass es finanziell erst mal keine Hürde war. Trotzdem war es harte Arbeit, bis ich davon leben konnte. Es waren viele Marmeladengläser, die vorzeitig schimmelten. Schlechte Ernten, Lausbefälle undundund… aber es tat mir gut. Ich fühlte mich wohl. Und das wichtigste: Hier waren alle ehrlich. Und dann wurde mir irgendwann auch klar, was mich an meinem alten Leben gestört hatte: Keine Empathie. Du bringst das Geld und dafür bekommst du Geld und Anerkennung. Bringst du es nicht mehr, bist du auch jiemand mehr. Und du bist austauschbar. Für meinen kleinen Willi hier bin ich nicht austauschbar. Und meine lieben Nachbarn sind auch durch nichts und niemanden zu ersetzen.

In meinem alten Leben habe ich viel und ständig gesprochen. Aber Kommunikation? Fehlanzeige. Hier spreche ich manchmal einige Tage mit niemanden. Aber selbst, wenn ich der Nachbarin nur winke und sie mir freudig zurückwinkt, ist das mehr wert als jedes Blabla.

So lieber Willi, jetzt kennen Sie mich schon wieder um ein Stück mehr und vielleicht ändert das Ihr Bild von mir wieder ein wenig. Bestimmt hatten Sie ein rundliches Landhuhn vor Augen, das die Lebensbedingungen der Stadt nur aus dem Fernsehen kennt.

Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Wie ist es denn bei Ihnen? Stadthahn oder Landhahn?

Bis bald,

Ihr Huhn

 

P.S.: Jetzt bin ich gar nicht auf Ihre Frage eingegangen, wie ich es mit der Kritik halte. Ich werde das im nächsten Brief nachholen. Aber vielleicht können Sie sich jetzt, da Sie von meiner Vergangenheit wissen, auch ein eigenes Bild machen (das ich dann vielleicht wieder gerade rücken werde).

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