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Liebe Annemarie,

wie soll man reagieren, wenn sich die gute Freundin von jetzt auf gleich verabschiedet und nichts zurückläßt, außer einem mysteriösen Brief, in dem sie sich verabschiedet – um dann, ein Jahr später plötzlich wieder aufzutauchen? Wie soll man reagieren, wenn man sich lange Zeit gefragt hat, was passiert ist, jeden Tag an die liebe Freundin gedacht hat, sie vermisst hat und fast krank vor Sorge war? Wie soll man reagieren, wenn man trotz allem auch Verständnis für die Entscheidung der lieben Freundin hatte? Es ist eine ambivalente Sache: Wütend auf der einen, erleichtert und froh auf der anderen Seite. Und wenn Dein plötzliches Verschwinden nicht auch etwas Gutes, ja geradezu schicksalhaftes gehabt hätte, würde ich wahrscheinlich anders reagieren…
Meine Liebe, glaubst Du an das Schicksal? Bisher war ich der Meinung, dass das Leben eine Anordnung von Zufällen ist, die man mal mehr, mal weniger beeinflussen kann: Du kannst Dich anstrengen in Deinem Job, aber triffst Du nicht auf die richtigen Leute, entdeckst nicht die richtigen Stellenanzeigen, bist nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, bringen Dir all die Anstrengungen nur bedingt etwas. Genauso in der Liebe: Du kannst Dich noch so anstrengen, kannst Daten, Leute kennenlernen, Dich hübsch zurecht machen, was weiß denn ich, aber triffst Du nicht auf das Huhn (oder besser: den Hahn), der zu Dir passt, bringt Dir die Daterei herzlich wenig. All das hielt ich für Zufall. Und all das ist nun einer Ahnung einer schicksalhaften Fügung gewichen. Das ist auch der Grund, warum ich Dir trotz Deines Fehltrittes ziemlich wohlgesonnen bin. Denn im Grunde fing alles mit Deinem Verschwinden an. Aber von Vorn:

Nachdem Du Dich verabschiedet hattest, bin ich in ein tiefes Loch aus Unverständnis, Selbstmitleid, Wut und Trauer gefallen. Ich habe Dir weiter Briefe geschrieben, in der Hoffnung, Du würdest sie irgendwie bekommen. Da sie nicht zurück kamen, nahm ich an, dass sie Dich erreicht hätten. Was meine Wut nur noch mehr geschürt hat: Wie kann dieses Huhn nur so verdammt egoistisch sein? Habe ich mich immer und immer wieder gefragt. Bis eines Tages all die Briefe an mich zurückgeschickt wurden. Willi, hieß der werte Herr Hahn, Nachmieter Deiner Wohnung, von dessen Briefkasten Dein Name nicht entfernt war, weshalb die Briefe weiterhin zugestellt wurden. Ich nehme an, dass Du absichtlich keinen Nachsendeantrag gestellt hast, um vollkommen abschließn zu können. Und auch, wenn ich allein das schon für eine typisch annemarie’sche verrückte Verantwortungslosigkeit halte, war es in dem Fall ein Glücksfall. Der werte Willi entpuppte sich nach anfänglichen Unstimmigkeiten bezüglich emotionaler Grenzen als doch sehr netter Hahn und wir entdeckten mit der Zeit viele Gemeinsamkeiten. Irgendwann war unser Briefwechsel so vertraut, dass ich Dir schon fast dankbar war für Dein Verschwinden. Aber nur fast. Eine Resttrauer blieb.

Jetzt bin ich dafür umso glücklicher: Ich habe nun nach langer Zeit des Wartens und Alleinseins nicht nur zwei Willis in meinem Haus, die mich zum Lachen bringen und mir ein gefühl von Heimat geben, sondern ich habe auch meine liebe gute Freundin Annemarie wieder.
Meine Liebe, manchmal ist es heilsam, sich von alten Mustern und Denkweisen zu lösen. Das haben wir im letzten Jahr getan. Du und ich, jede auf ihre Weise. Und auch, wenn das letzte Jahr von Turbulenzen und emotionalem Chaos geprägt war, jetzt stellt sich langsam aber sicher ein Gefühl von Ankommen ein. Und das ist das Schönste, was ich je erlebt habe.

Lass uns also bald wiedersehen. Wo bist Du? Bist Du in der Nähe? Komm uns drei besuchen, wir haben uns so viel zu erzählen!

Deine Huhn.

 

 

 

Senf dazu geben