09_annemarie_reisen_II

Liebstes Huhn,

danke für die schönen Tage bei Dir. Am liebsten wäre ich noch länger geblieben….aber dann kommen immer diese ganzen Verpflichtungen und die Vernunft….undsoweiterundsofort….
Ist es nicht merkwürdig? Kaum bin ich wieder zurück in den eigenen vier Wänden, ist die Urlaubsstimmung wie verflogen: Im Briefkasten warten Rechnungen, die Blumen halb vertrocknet, die Wäsche muss gemacht werden und die Fenster könnten auch mal wieder…was bleibt ist die Erinnerung an die schönen Tage und eine nicht zu greifende Melancholie…eine Sehnsucht…zurück zur unbeschwerten Zeit…man möchte sich einhüllen in das Gefühl, das man während der letzten Tage gehabt hat…diese Freiheit und Unbeschwertheit…man will sie einfach zurück. Einerseits. Andererseits ist man auch froh, wieder in der vertrauten Umgebung zu sein. Mit vertrauten Dingen um sich herum, mit vertrauten Gesichtern und Abläufen. Und so bleibt ein irgendwie ambivalenter Zustand – zwischen Melancholie, Freude, Erleichterung, Sehnsucht und Fernweh…
Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser ist, gleich zu Hause zu bleiben….einfacher wäre es. Man muss nicht erst mit der ungewohnten Umgebung warm werden, sich an die fremden Gerüche gewöhnen und all die neuen Eindrücke verarbeiten…eine Reise ist ja auch irgendwie stressig – im besten Fall natürlich positiver Stress…man spart sich auch dieses anstrengende Gefühl bei der Heimkehr…und letztendlich bleibt man vom Fernweh verschont. Würde man einfach weitermachen wie man das eben jeden Tag macht, würde einem auch nicht auffallen, wenn etwas fehlt…

„Was wunderst du dich, dass Reisen dir nichts nützen, wo du doch dich herumträgst?“ Fragt Seneca seinen Freund Lucilius in einem seiner Briefe. „Dich bedrückt dieselbe Ursache, die dich hinausgetrieben hat.“

Wenn wir Reisen, wollen wir Urlaub vom Alltag machen, von dem ganzen Stress, von unserer Unzufriedenheit. Wir suchen Erholung in einem Ortswechsel und glauben, dass der Stress von uns abfällt, wenn wir nur weit genug vor ihm fliehen. Aber ist es Erholung an einem fremden Strand zu liegen? Ist es Erholung, sich fremde Kulturen anzusehen? Oder ist es vielmehr eine Überlagerung unserer Sorgen, eine Art Tuch, mit dem wir den Alltag für ein paar Tage abdecken? Und in dem Moment, in dem wir wieder nach Hause kommen, wird das Tuch beiseite gerissen und der Alltag springt uns mit einer Grimasse entgegen.
Versteh mich nicht falsch, Reisen ist toll. Aber ich glaube, wenn wir die Reise dazu benutzen, uns selbst zu entfliehen, wird das nichts nützen. Wie soll das gehen? Schließlich sind wir selbst ja immer bei uns.

„Du kommst hierhin und dorthin, um die Last, die du in dir trägst, abzulegen, die durch die Unruhe selbst noch schwerer wird, so wie auf einem Schiff die unbewegte Last weniger Probleme macht, die ungleichmäßig verteilte Last schneller diesen Teil versenkt, in dem sie sich aufhäuft. Was auch immer du tust, du tust es gegen dich, durch diese Unruhe selbst schadest du dir; denn du läßt einen Kranken keine Ruhe.“ 

Ich denke, wenn wir mit uns und unserem Leben im Reinen sind, wir uns an dem erfreuen, was wir tun, können wir die Orte auf unserer Reise mit anderen Augen sehen. Wir fühlen uns nicht fremd, sondern zu Hause, weil wir in uns Heimat gefunden haben. Sehen wir die Reise als eine Flucht vor dem Alltag, benutzen wir die bereisten Orte wie Werkzeuge. Sie sind uns eigentlich egal, sie sollen uns zur Erholung dienen. Oder um Spaß zu haben. Sie sind reine Erfüllungsgehilfen.

„Animum debes mutare, non caelum – Du musst deine Einstellung ändern, nicht den Himmel.“

Meine Liebe, ich wünschte, das ginge einfacher. Denn – wie gesagt, je länger man einfach weiter macht, desto weniger fällt einem auf, dass etwas nicht stimmt. Insofern kann ja eine Reise auch dazu dienen, zu merken, dass man etwas ändern sollte. Nämlich genau in dem Moment, wenn man nach Hause kommt und sich sofort wieder weg sehnt…nur halten wir das eben für einen normalen Zustand, der nun mal zum Urlaub dazu gehört. Wer will sich schon eingestehen, dass in dem Leben, das man lebt, etwas nicht stimmt? Oder dass man ein Leben lebt, das man nie führen wollte? In das man so hineingerutscht ist…hoppla, falsches Leben. Naja, nun ist das nunmal so. Lässt sich nicht ändern….Also einfach weiter machen. Bis zum nächsten Urlaub und zur nächsten Reise.

Ach, Huhn….nun werde ich mal die Briefe öffnen, die Wäsche machen, an die schönen Tage mit Dir denken und….mich auf morgen freuen. Denn, wenn ich ganz ehrlich bin – ich find’s hier super. Genauso wie bei Dir.

Es drückt Dich,

Deine Annemarie

 

 

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