Liebste Annemarie,
diesmal bin ich diejenige, die das Thema Deines letzten Briefes sortieren musste…Neid – ein wirklich interessantes und so verworrenes Thema. Das, wenn man es einmal weiterdenkt und sich sein Umfeld mal genauer anschaut, schnell an weitere Abgründe der menschlichen Psyche bringt. Ich habe es Dir gleich getan, und ebenfalls zu dem Thema recherchiert – dabei bin ich auf einen äußerst interessanten Autor gestoßen. Erich Fromm. In einem seiner Bücher „Haben oder Sein“ beschreibt er das Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz. Nach Fromm leben die Menschen in der westlichen Welt in einer Gesellschaft, in der es wichtig ist, zu besitzen, über Dinge zu verfügen und aus dem Kauf von Dingen Selbstbewusstsein und Zufriedenheit zu ziehen. Dies färbte dann irgendwann irgendwie auf alle anderen Lebensbereiche ab – so dass die Menschen auch Beziehungen wie Sachen „haben“ und als quantifizierbare Ausdruck des eigenen Werts sieht. Generell sei nach Fromm das ganze Streben darauf ausgerichtet, Besitz anzuhäufen, zu verteidigen und zu pflegen. Menschen wie Dinge.
Demgegenüber stehe die Existenzweise des Seins, in der man seine Befriedigung aus sich selbst heraus schöpft. Aus dem, was man ist, wie man mit anderen Menschen umgeht, und in dem man sich an der Gegenwart erfreuen kann, ohne gleich alles, was man sieht oder hört, besitzen und nach Hause tragen zu wollen.
Offensichtlich scheint es für die Menschen aber wahnsinnig schwer zu sein, den Zustand des Seins zu erreichen. Vielleicht, weil sie nun mal in einer Gesellschaft des Habens leben, damit aufgewachsen sind und ständig damit konfrontiert werden, was – analog zu Deinen Beispielen – Kollegen, Freunde, Bekannte und sogar der Partner oder Familienmitglieder haben. Insofern schließt sich hier auch der Kreis zu der Angst, die Du in Deinem Brief über Geschenke beschreibst: Sie wollen das, was sie einmal haben behalten und festhalten. Denn, was man hält, hat man. Und darüber hat man letztendlich auch die Kontrolle. Man kann darüber bestimmen. Und so ist man ganz schnell bei dem Thema Macht. Denn auch darauf fahren die Menschen ziemlich ab. Ständig geht es Ihnen um Macht und Kontrolle. Das begleitet sie den ganzen Tag lang. Jeden Tag. Im Job, bei Freunden, in Beziehungen. Sie wollen immer bestimmen und kontrollieren. Dabei scheint es wohl solche Menschen zu geben, denen das weniger – oder gar nicht wichtig ist (vielleicht weil sie den Zustand des Seins erreicht haben) und solche, die all ihren Selbstwert daraus ziehen, wieviel Macht sie anderen gegenüber haben.
Ich fragte mich, wo die Überschneidungen und Übergänge von Neid und Macht sind. Meine Liebe, ich habe viel gelesen und bin viel spazieren gegangen, um darüber nachzudenken (soviel Bewegung hatte Willi im ganzen letzten Jahr nicht…) und habe für mich folgende Theorie gefunden: Wenn es dem Menschen im Leben vor allem darum geht, möglichst viel Besitz (Dinge und Menschen) anzuhäufen, ist er natürlich prädestiniert für Neid. Schließlich sieht er ja ständig, was andere haben. Das geht einher mit der Macht: Denn wer etwas besitzt, glaubt die Macht und Kontrolle darüber zu haben. Also beneiden sich die Menschen ständig gegenseitig und versuchen, sich zu übertrumpfen. Das machen sie, indem sie sich gegenseitig vergleichen und sich gegenseitig erzählen, was sie alles haben. Das ist schon mal sehr anstrengend für die Menschen und meistens sind sie deshalb unzufrieden.
Es kommt aber noch schlimmer: Denn manchmal will ein Mensch exakt dasselbe haben wie ein anderer. Das geht natürlich nicht, den zwei Menschen können nicht ein und dasselbe Objekt zur gleichen Zeit vollständig sein Eigen nennen. Im Grunde wäre es nur logisch, wenn sich derjenige, der das Objekt nicht besitzt, auf ein anderes konzentriert. Bei einigen Menschen ist der Trieb, das zu besitzen, was ein anderer hat, aber offensichtlich so stark, dass ihnen jedes Mittel recht ist, dem anderen dies zu entreissen. Hier kommt wieder die Machtausübung ins Spiel. Das positive an der Machtausübung ist, dass die Menschen eine unheimlich hohe Kreativität entwickeln, um ihre Macht auszuspielen. Nun gut, einige nicht. Die gehen einfach los und klauen sich das Objekt der Begierde. Das ist die eine Möglichkeit.
Bei den meisten Menschen geht es aber nicht unbedingt nur um Gegenstände. Das können sie noch relativ gut verschmerzen. Viel sensibler sind sie, wenn es um Menschen geht. Denn sie bezeichnen ja auch Freunde als ihr Eigen. Oder ihren Partner. Und hier wird das Ganze nämlich extrem spannend. Denn wenn sich zwei Menschen gut verstehen und der eine sich dann mit einer dritten auch gut versteht, bekommt einer aus dem ursprünglichen zweier-Bund ein Problem. Auch hier ist das nicht bei allen Menschen der Fall, habe ich mir sagen lassen. Sondern nur bei solchen, die sowieso ständig von der Angst getrieben werden, etwas zu verlieren (die Menschen nennen das Verlustangst, die widerrum viele Gründe haben kann, was ich noch nicht so ganz verstanden habe…). Person A ist also gezeichnet von Verlustängsten und sieht, dass Person B sich mit Person C gut versteht. Was passiert? Panik! Denn Person B könnte sich ja vollständig von Person A abwenden! Also muss alles getan werden, um Person B wieder zurück zu bekommen. Und hier kommt der kreative Part der Machtausübung ins Spiel (Menschen sind ja so interessant, unglaublich): Sie entwickeln Strategien, um Person C auszupielen. Da sind dann der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Deshalb macht es den Menschen vielleicht auch so einen Spaß, so wird es wenigstens nicht langweilig. Und sie können ihren Drang nach dem Besitz befriedigen. Toll.
Ich weiß nicht, ob ich das schon so ganz durchschaut habe…möglicherweise habe ich etwas übersehen oder noch nicht ganz verstanden…ich werde da noch weiter in die Tiefe gehen müssen mit meiner Recherche, um dieses ganze Konstrukt noch besser überschauen zu können. Möglicherweise hast Du darüber auch schon etwas gelesen, dann lass es mich wissen.
Ich werde nun mal meine Macht ausspielen und Willi zu einem weiteren Spaziergang überreden (denn das machen die Menschen auch gerne: Anderen ihre Überzeugungen und Werte aufdrücken, hab ich ebenfalls gelesen). Vielleicht überrede ich ihn dann noch davon, sich ausschließlich von den gleichen Körnern wie ich zu ernähren…mal sehen 😉
Es drückt Dich,
Dein Huhn