eins_huhn_V

Meine Liebe,

weißt Du, was ich dachte, als ich gestern den Briefkasten geleert habe und Deinen Namen auf dem Umschlag las? Ich dachte: „Na, endlich.“
Ich wusste die ganze Zeit, dass Du früher oder später schreiben würdest. Keinen Tag habe ich daran gezweifelt. Deshalb kann ich Dir auch leider den Gefallen nicht tun und Dir meine Sorge um Dich oder meine Wut über Dich, die mich im letzten Jahr geplagt haben, mitteilen. Ich weiß, dass würde Dich und Dein schlechtes Gewissen nähren und Du könntest Dich noch ein wenig selbst geißeln, um mich dann um Verzeihung zu bitten und Dich in Rechtfertigungen zu verzetteln. Nur damit ich am Ende sage: „Schwamm drüber.“ Weißt Du, diesen Gefallen tue ich Dir nicht. Wir sind erwachsene Hühner und können getrost auf diese Spielchen mit Gewissensbissen verzichten. Dafür ist mir meine Zeit zu wertvoll. Und ich brauche meine Energie für produktivere Dinge. Zum Beispiel für meinen Garten. Also musst Du dich damit abfinden, dass ich das ganze Prozedere der Entschuldigungen abkürze und Dir einfach sage: Ich freue mich unglaublich, wieder von Dir zu lesen. Du hast mir genauso gefehlt. Du mit Deinem an Absurdität grenzendem Perfektionismus, Deinem Hang zu Katastrophen und Deiner Rastlosigkeit. Auch, wenn Dein erster Brief gefasster und ja, auch erwachsener klang, als all die anderen davor, lese ich auch da das aufgescheuchte Huhn heraus, das ich kenne. Und bevor Du jetzt wieder in Selbstkritik verfällst und Dich fragst, wie Du das am besten bis morgen ändern kannst, sage ich Dir: Lass es. Das aufgescheuchte Huhn ist ein Teil von Dir. Also lass es leben, anstatt ständig nach neuen Wegen zu suchen, es zu verändern und verbiegen zu wollen. So wie ich Dich kenne, hast Du aber auch schon darüber nachgedacht und geißelst Dich jetzt mit dem Umstand, dass das mit dem „beschissenen Sich-Selbst-Annehmen“ (und ich bin mir 100%ig sicher, dass Du das Wort „beschissen“ gedacht hast) noch nicht so klappt, wie Du es gerne hättest. Dazu zwei Fragen. Erstens: Wann ist Deiner Meinung nach der Endzustand erreicht, wann bist Du „fertig“ mit dem Annehmen? Zweitens: Glaubst Du wirklich, dass die Selbstannahme proportional zur Fokussierung eben dieser steigt? Plus und plus ergibt nicht plus hoch zwei, meine Liebe. Und das Sich-Selbst-Annehmen ist ein kontinuierlicher Prozess. Der hört nie auf. Das machst Du, bis Dir die Federn ausfallen.
Deine Ausführung über die Überraschungs-Ei-Tage fand ich äußerst spannend. Und so herrlich typisch Annemarie. Dazu nur dies: Hast Du schon mal über die Möglichkeit nachgedacht, ein Überraschungs-Ei ganz ohne Erwartungen zu öffnen? Oder noch verrückter: Wie wäre es, wenn Du dir die unbrauchbare „Hühner-Kacke“, aus dem Innern des Überraschungs-Ei, zu nutzen machst, anstatt Dich zu ärgern, dass nicht das Richtige drin war?

So, meine Liebe, ich werde mich nun wieder meinem Garten widmen. Der wird nämlich neu gemacht. Und wenn Du mich das nächste Mal besuchen kommst, wirst Du es sehen.

Bis bald,

Dein Huhn.

P.S.: Schau mal, die Zeichnung von uns habe ich vor Kurzem gemacht – Wir im letzten Sommer. Bei der Pferdekoppel. Weißt Du noch? Wir haben viel zu viele Körner gefuttert und irgendwann sind wir pappsatt auf der Wiese eingeschlafen. Und das, obwohl Du solche Angst vor Spinnen hast. Das war ein schöner Sommer mit Dir.

P.S. 2: …ich legte jeden Tag ein Ei und Sonntags auch mal zwei… Wie könnte ich Dich jemals alleine singen lassen? Du krächzt wie ein Rabe im Stimmbruch.

 

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