10_huhn_againandagain_II

Meine Liebe,

es sind schon zwei Wochen vergangen, ohne eine Antwort von mir…es tut mir leid. Diesmal bin ich diejenige, die sich eingestehen muss, gepredigte Prinzipien nicht immer halten zu können…
Was war los? Bestimmt kennst Du das: Du hast so viel zu tun, dass Du gar nicht merkst, wie die Zeit vergeht. Und abends fragst Du dich, wo der Tag eigentlich geblieben ist…Du bist doch gerade erst aufgestanden…ein Zustand, der mir nicht gefällt, aber einer, mit dem sich die meisten emsigen Hühner bestens vertraut fühlen (und nicht nur die). Neulich sprach ich mit einem guten alten Freund, dem Specht. Er war sehr unzufrieden, weil er das Gefühl hatte, sein Leben lang nur mit der Arbeit beschäftigt zu sein. Immer unter Strom. Ein Perfektionist durch und durch. Viel bewundert für das, was er leistet. Und dennoch sehr unglücklich. „Was bringt mit die Bewunderung der anderen Vögel, wenn ich selber das Gefühl habe, mein Leben rast an mir vorbei? Als ich jung war, dachte ich, es sei das wichtigste, meine Arbeit zu perfektionieren, mich damit von den anderen Spechten abzuheben. Ich wollte es immer besser und auch noch schneller machen, als alle anderen. Süchtig nach Bewunderung und Beifall. Und jetzt? Jetzt frage ich mich, wo die letzten Jahre geblieben sind? Habe ich gelebt oder habe ich nur funktioniert?“
So oder ähnlich habe ich es schon von vielen gehört…und auch ich ertappe ich mich ja immer wieder dabei, Stunde um Stunde ziehen zu lassen, emsig wie eine Biene und weiß am Abend nicht, wo der Tag geblieben ist. Und dann hört man sich Sätze sagen wie: „Ach guck, ist das Jahr schon wieder rum…das ging aber schnell. War doch gerade erst Weihnachten….manmanman…wo ist nur die Zeit geblieben?“
Die Menschen sagen, je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Sie sagen, das sei normal, weil man als Kind noch kein Zeitgefühl habe. Das komme erst mit Schulbeginn und der Strukturierung des Tages. Und wenn man erwachsen ist, vergeht die Zeit schneller, weil man Termindruck habe und der Arbeitsalltag und Stress die Zeit subjektiv schneller vorbeigehen ließe. Sie nehmen diesen Umstand als gegeben hin. Bedauernd zwar, aber mit einem Schulterzucken. Ist halt so. Wat willste machen? Kannste nix machen. Machen sich aber so zum Opfer ihrer selbst. Und zelebrieren mit Hingabe genau das, was Du in Deinem letzten Brief beschrieben hast: Einfach weitermachen. Fertig werden. Nicht stehenbleiben. Stillstand ist der Tod. Die Zeit steht auch nicht still. Und es wird ja sowieso alles viel schnelllebiger, flüchtiger. Da muss man sich dem Zeit-Rennen schon anpassen, wenn man nicht auf der Strecke bleiben will.
Man lebt entweder wehmütig in der Vergangenheit oder blickt ängstlich in die Zukunft und vergisst dabei die Gegenwart. Sie sagen, die Gegenwart gibt es nicht, denn kaum ist sie da, ist sie auch schon wieder weg. Das stimmt zwar, aber warum interessiert das Kinder nicht? Sie leben im Hier und Jetzt. Sie kümmern sich nicht darum, was morgen oder nächste Woche ist.
Jeder kennt das Zitat von John Lennon:

„Life is what happens to you while you are busy making other plans“

Oft zitiert und inflationär auf Postkarten, Postern, T-Shirts, Tassen und weiß der Geier, wo noch überall, verwendet. Die Menschen nicken zustimmend – ja, genauso ist es! Toll, wir sitzen alle in einem Boot. Fühlen wir doch genau das. Aber kommt mal jemand auf die Idee, das zu ändern? Etwas anders zu machen? Nein. Wozu auch? Ist halt so.
Und diese Erkenntnis ist ja keine der 68er Generation. Ja, auch ich habe die guten alten Seneca Texte wieder aus der Schublade gepickt (der alte Haudegen ist aber auch ein Evergreen, jungejunge…). Und fand dort folgenden Satz:

„Das größte Hemmnis des Lebens ist die Erwartung, die sich an das Morgen hängt und das Heute verloren gibt“

Auch zu Senecas Zeit waren die Menschen nicht anders als heute, sie hetzten genauso geschäftig umher und wünschten sich das Rentenalter herbei. Denn dann werden sie endlich das tun, was sie schon immer tun wollten und können sich Zeit nehmen für Dinge, die ihnen lieb sind. Und genau das ist es ja: Sich Zeit nehmen. Der Satz „Ich habe keine Zeit“ ist meiner Meinung nach einer der am häufigsten gesagte und gleichzeitig unsinnigste Satz. Denn Zeit haben wir alle gleich viel. Zumindest an einem Tag. 24 Stunden. Es ist also keine Frage des habens, sondern eine Frage der Prioritäten. Aber es ist einfacher, unserem Gegenüber zu sagen „Ich habe keine Zeit – Termine, Stress, dies das, Geschäfte“, als ihm ehrlich zu sagen, dass einem andere Dinge wichtiger sind und man sich keine Zeit für ihn nehmen möchte. Denn das könnte den anderen verletzen. Auch wenn Prioritäten eher temporärer Natur sind und in diesem Moment etwas anderes wichtiger ist, im nächsten aber schon die Person wichtiger sein kann, laufen wir doch Gefahr, unser Gegenüber zu verletzen. Also machen wir es uns einfach und machen uns – wieder einmal – zum Opfer. Einfach keine Zeit. Termin, Chef, ich muss noch…weißt schon…ein gesellschaftlich akzeptiertes Argument. Ja quasi DAS Argument schlechthin. Schließlich ist Zeit kostbar. Und wer sich aufopfert und sie mit möglichst viel Leistung vollstopft, dem ist Bewunderung gewiss. Merkwürdigerweise nehmen wir der Zeit so ihre Kostbarkeit und degradieren sie zu einem lästigen, hinterhältigem Lebensgefährten.
So geht’s auch meinem Freund, dem Specht. Aber er hat den Schnabel voll davon. Er möchte das nicht mehr mitmachen. Er sagte wortwörtlich zu mir: „Weißte Huhn, scheiß auf die Bewunderung der Anderen. Bewunderung ist flüchtig. Sie zu bekommen bringt Dir nichts, solange Du nicht mit Dir und Deiner Lebensführung im Reinen bist. Im Gegenteil. Sie macht Dich sogar wütend. Ich mach das ab jetzt anders. Ich mache meine Arbeit achtsam und mit Liebe, anstatt mit dem Druck, alles perfekt und schneller als alle anderen machen zu wollen. Und nehme mir mehr Zeit für andere Dinge. Und Huhn, ohne Witz: Die Tage werden tatsächlich länger. Ich habe nicht mehr das Gefühl, die Zeit rennt mir davon. Ich bin zufriedener und fühle mich irgendwie…angekommen. Ist das nicht verrückt?“

Liebe Annemarie, ist das verrückt? Ich glaube nicht. Ich glaube, der Schlüssel zu einem zufriedenem und glücklichen Leben liegt in dem Auskosten des Moments. Denn wenn Du jeden Moment erkennst und ihn spürst, wirst Du nie das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben. Dann brauchst Du nicht wehmütig in die Vergangenheit zu blicken und Du brauchst nicht ängstlich der Zukunft entgegen zu zittern. Du kannst Dich immer weiter bereichern an den Momenten und Du brauchst nicht mehr suchend umher irren wie ein blindes Huhn, denn Du bist angekommen. Zu Hause. In Dir.

Dein Huhn.

Senf dazu geben