11_annemarie_heimweh_II

Liebstes Huhn,

seit Deinem letzten Brief geistert das Thema Heimat in meinem Kopf umher…nein, nicht ganz: Es erlebt seitdem ein Comeback, denn es ist ein Thema, das mir genauso vertraut wie fremd ist. Vertraut, weil ich mich seit ich denken kann mit der Frage beschäftige. Fremd, weil ich bisher zu keiner Antwort gefunden habe…bisher…

Denn wenn Du jeden Moment erkennst und ihn spürst, wirst Du nie das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben. Dann brauchst Du nicht wehmütig in die Vergangenheit zu blicken und Du brauchst nicht ängstlich der Zukunft entgegen zu zittern. Du kannst Dich immer weiter bereichern an den Momenten und Du brauchst nicht mehr suchend umher irren wie ein blindes Huhn, denn Du bist angekommen. Zu Hause. In Dir.

…hast Du in Deinem letzten Brief geschrieben. Ich frage Dich: Ist das Heimat? Ist „zu Hause“ gleich Heimat? Ist es ein Gefühl von In-Sich-Ruhen? Oder ist es ein Ort? Oder ist es beides? Was ist Heimat?
Unglücklicherweise scheint es davon keine einheitliche Definition zu geben. Es wäre auch zu einfach, bei einer so essenziellen Frage, Wikipedia zu bedienen und innerhalb von wenigen Minuten zu einer Antwort zu finden. Es ist wohl eher so, dass jeder seine eigene Definition von Heimat finden muss – und eben damit seine Heimat. Für die einen ist es der Ort, an dem man aufgewachsen ist, das Nest. Einige bleiben dort. Sie fühlen sich dort wohl. Andere bezeichnen es zwar als Heimat, fühlen es aber nicht. Sie sind Suchende. Gehen mal hierhin und dorthin und finden doch keine Antwort. Sie tragen Ihre Last hierhin und dorthin, suchen nach einem Ort, an dem sie das Gefühl der Heimat finden, aber werden nicht fündig. Ist es also doch so, dass wir Heimat in uns tragen? Und wenn ja, was löst es aus? Was festigt es? Geborgenheit? Bestimmt. Aber wie entsteht Geborgenheit? Durch Menschen? Familie, Freunde, Partner? Durch Zufriedenheit? Zufriedenheit womit? Mit unserem Job, mit uns selbst? Oder ist letzteres eher ein Resultat aus dem Heimat-Gefühl, das wir in uns tragen? Gehe ich einmal davon aus, dass Heimat mehr ein Zustand ist, als ein Ort, müssen wir doch zuerst zu dem In-Sich-Ruhenden Zustand gelangen. Ansonsten würden wir dohc ewig weitersuchen, weil wir fälschlicherweise glauben, Heimat sei ein Ort. Ebenso wie mit dem Reisen aus meinem letzten Brief: Wir nehmen uns selbst immer mit, egal wie weit wir fahren. Und eben, weil wir uns selbst immer mitnehmen, ist es doch nur logisch, dass wir zunächst in uns Heimat gefunden haben müssen. So weit so gut.
Nur, wenn es sich bei der Heimat um keinen Ort handelt, wie verhält es sich dann mit dem Heimweh? Heimweh wird als eine Verunsicherung beschrieben, die auftritt, wenn wir uns ohne das Gerüst der gewohnten Umgebung dem Leben ausgeliefert fühlen. Aber ist es nur das die gewohnte Umgebung? Kann man man die gewohnte Umgebung gleichsetzen mit Sicherheit, die wir brauchen, um das Leben leben zu können? Und was ist Umgebung? Ist es die Wohnung, die Straßen, der Baum vorm Haus, die Gerüche, das Licht, die Geräusche? Oder sind es auch die Menschen? Oder ist es eine Mischung aus Allem? Kann man auch Heimweh in der Heimat haben?
Und wie ist es, wenn die Heimat fremd wird? Und die Fremde noch nicht Heimat ist? Kann sich Heimat ändern?

Home is where your heart is.

Abgedroschen? Wahr? Oder beides?

Huhn, ich bin verwirrt. Je länger ich über Heimat nachdenke, desto komplizierter scheint es mir. Aber vielleicht ist es auch gar nicht kompliziert, sondern eben einfach ein Gefühl. Ein Gefühl, ähnlich wie Liebe. Wer käme auf die Idee, Liebe definieren zu wollen? (Ok, bestimmt findet sich jemand, der das versucht und ich bin mir sicher, das Wikipedia uns auch hier nicht im Stich lässt, werde mir das aber jetzt ersparen). Warum also Heimat definieren? Wenn es sich um ein Gefühl handelt, muss es doch nur gefunden werden. Ich glaube, dass wir alle irgendwo in uns Heimat tragen. Ob, wann und wie wir sie finden, liegt bei uns. Auch das kann ein sich in die Länge ziehender Prozess sein. Manchmal anstrengend und niederschmetternd. Klar. Aber es lohnt sich, durchzuhalten. Denn, wenn wir Heimat einmal gefunden haben, ist es das Schönste und Wertvollste, was es gibt.

Deine Annemarie.

P.S.: Was halten wir eigentlich von „dritten Orten?“

Senf dazu geben