12_huhn_geschenk_II

Liebste Annemarie,

wenn wir Heimat einmal gefunden haben, ist es das Schönste und Wertvollste, was es gibt.

dieser Satz aus Deinem letzten Brief hat mich tief berührt. Ich sehe das genauso, denn was wären wir ohne Heimat? Suchende, Umherirrende, Verlorene…
Es ist das höchste Gut in unserem Leben, das wir wie ein wertvolles Geschenk behandeln sollen. Dieses Geschenk besteht aus vielen Teilen, die sich zu einem großen Ganzen – dem Gefühl Heimat – zusammensetzen: Das In-Uns-Ruhen, die Menschen, in deren Gegenwart wir uns wohl fühlen und vielleicht auch ein Ort. Allerdings würde ich den Ort eher als Beiwerk beschreiben. Ich glaube, es handelt sich bei dem Ort eher um „zu Hause“. Aber ist „zu Hause “ immer gleich Heimat? Ich denke, Heimat geht noch eine Ebene tiefer und kann auch losgelöst von zu Hause stehen. Es kann sein, dass ich in einer Stadt zwar ein „zu Hause“ habe, dort aber das Gefühl Heimat ausbleibt. Und andersherum kann ich mich an einem Ort, an dem ich kein zu Hause habe, heimisch fühlen. Deshalb sehe ich Heimat losgelöst von einem Ort. Ein Geschenk, das ich überall hin mitnehmen kann. Nur vergessen wir es zu oft zu Hause. Dort liegt es dann und wenn wir uns fremd fühlen, ist es so fern von uns. Und dann haben wir Heimweh. Wenn wir das Heimat-Geschenk als ein tief verankertes Gefühl in uns tragen und es als etwas Eigenständiges betrachten, das auch ohne einen Ort bestehen kann, könnten wir es immer abrufen, wenn wir uns fremd fühlen. Wäre es nicht schön und einfach? Ein Gedanke, eine Vorstellung oder eine Erinnerung und schon ist sie da…
Aber wie das mit Geschenken manchmal so ist: Wir bekommen sie, freuen uns eine zeitlang daran und irgendwann wandern sie ins Regal. Und dann in die Schublade, weil sie Platz machen müssen für etwas anderes. Irgendwann brauchen wir auch in der Schublade mehr Platz. Ah, da war doch dieses Geschenk von damals – naja, das liegt nun schon so lange in der Schublade, da kann es auch mal aussortiert werden…und nach einigem Hadern, ob es direkt im Müll oder lieber doch nicht…wird es im Keller eingelagert.
Oder es geht schon los, wenn wir das Geschenk bekommen. Und wir fragen uns: Womit haben wir das verdient? Haben wir es überhaupt verdient? Oder will uns da jemand einen Streich spielen und das dicke Ende kommt noch…aha, lieber mal mit Vorsicht betrachten, dieses Geschenk. Lieber nicht zuviel freuen, denn Freude macht unaufmerksam und wer unaufmerksam ist, der kann schnell in die Falle tappen. Und zack, da haste dann das dicke Ende. Selber Schuld, was freust du dich auch so bedenkenlos?
Oder wir kommen nach dem Auspacken des Geschenks in Stress, schließlich wird ja jetzt etwas von uns zurückerwartet. Augenblicklich. Sofort. Los, denk dir was aus. Mindestens etwas gleichwertiges. Besser etwas noch tolleres. Das Geschenke-Konto muss ausgeglichen werden.
Na, meine Liebe, welche dieser Gedanken kommen Dir bekannt vor?
Alle, einer oder keiner? Wenn keiner, gehörst Du zu den glücklichen, die Geschenke einfach annehmen können. Sich darüber freuen, sie genießen und sie in Ehren halten.
Für die andere Option habe ich eine gute Nachricht: Geschenke sind Geschenke und wollen als solche betrachtet werden. Sie wollen keinen Ausgleich und sie wollen vor allem nicht hinterfragt werden. Niemals. Ein Geschenk ist ein Geschenk. Punkt. Also nimm es einfach an. Besonders die Geschenke, die Dir das Leben gibt, solltest Du nicht hinterfragen: Denn was hast Du davon, es zu hinterfragen? Außer einer Beschäftigung, weil Du Dir Dramen ausmalen kannst, wie  Dir das Geschenk wieder entrissen werden könnte. Aber außer dem und der Tatsache, dass Du ständig auf der Lauer liegst, bereit das Geschenk zu verteidigen, wenn es sein muss – oder bereit, zu trauern, wenn es Dir entrissen wurde – hast Du keinen Vorteil vom Hinterfragen. Also heb Dir das Hinterfragen lieber für Gelegenheiten auf, in denen Dein kritischer Verstand eindeutig gefragt ist. Spar es Dir für Bausparverträge. Aber wenn Dir das Leben ein Geschenk gibt, nimm es und hinterfrage nicht.
Natürlich bist Du nicht geschützt davor, dass es Dir entrissen werden kann. Oder dass es kaputt geht. Aber hey, was bringt es Dir, VORHER über all diese Eventualitäten zu grübeln?
Und das gilt übrigens für alle Geschenke des Lebens. Für Heimat ebenso wie für Menschen, die Dein Leben – auf welche Weise auch immer – bereichern.

In diesem Sinne,

bewahre Dein neues Geschenk und hör verdammt noch mal auf zu hinterfragen.

Dein Huhn.

Senf dazu geben