Liebstes Huhn,
ich brauchte ein wenig, um Deinen letzten Brief und das, was Du über das Annehmen von Geschenken geschrieben hast, zu verdauen. Du hast natürlich Recht, wenn Du schreibst, dass es nichts bringt, sich schon vorher über alle Eventualitäten Gedanken zu machen und vor lauter Sorge, ob einem das Geschenk eventuell vielleicht womöglich madig gemacht werden könnte, die Freude über das Geschenk zu vergessen. Aber das umzusetzen ist nicht so leicht. Erst recht nicht, wenn ein nicht zu unterschätzender Faktor hinzukommt. Einer, der mir erst bewusst geworden ist, als ich ein Gespräch von zwei Frauen belauscht habe (Die Menschen denken ja immer, wir verstehen sie nicht, naiv wie sind…schon süß irgendwie). Offensichtlich ging es um eine dritte. Sie schienen sie gut zu kennen, so wie sie über diese dritte Person sprachen. Ich würde ja sagen, sie sind befreundet, aber die Art wie sie über diese dritte sprachen, ließ mich das doch stark bezweifeln: „Sarah hat letzte Woche eine Gehaltserhöhung bekommen. Ehrlich gesagt, frage ich mich, wofür. Als ob sie jetzt so viel mehr tun würde. Naja, was blonde Haare und dicke Titten doch so alles ausmachen.“ „Kannst Du laut sagen. Naja, nun muss sie wohl mal ranklotzen.“ „Geschieht ihr ganz recht, dann merkt sie auch mal, dass man für sein Geld arbeiten muss.“ „Genau. Aber bei ihrer Belastbarkeit wird der Burn-Out ja nicht lang auf sich warten lassen.“ „Na, zum Glück. Nicht, dass sie noch vor uns befördert wird.“ „Genau!“
Ich hörte da so zu und fragte mich, was denn da los sei. Wieso wollen die beiden anderen nicht, dass diese Sarah eine Gehaltserhöhung bekommt? Wieso denken sie sofort, dass es mit ihrem Aussehen zu tun hat? Und wieso wünschen sie ihr etwas Schlechtes, damit sie selber etwas Gutes bekommen? Sensibilisert von dieser Frage lief ich die nächsten Tage durch die Stadt und überlegte, was das sein könne: Wut? Hass? Angst? Verlangen? Traurigkeit? Die Welt schien plötzlich nur noch aus Menschen zu bestehen, die anderen Menschen etwas nicht gönnen, weil sie es selber haben wollen. Ich hörte Gespräche, in denen sich schadenfroh über erfolgreiche Menschen geäußert wurde, sobald ihnen etwas Schlechtes widerfährt. Ich belauschte Menschen, die sich Pläne ausdachten, wie sie einer Person, der etwas Gutes widerfährt, dies wieder entreißen können. Und ich beobachtete Kinder, die anderen Kindern etwas wegnahmen, was sie selber gerne hätten.
Irgendwie schockierte mich das Ganze und ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Deshalb musste ich erst mal ein wenig recherchieren, um herauszufinden, was das eigentlich für eine Emotion ist. Offensichtlich musste es eine Emotion sein, die die Menschen schon von klein auf in sich tragen und gegen die sie irgenwie nichts tun können. Eine Emotion, die so stark ist, dass sie selbst intelligent wirkende Menschen zu dummen und verletzenden Äußerungen und Taten verleitet. So zerstörerisch, dass sie selbst vor Freundschaften keinen Halt macht. Ich überlegte und überlegte, aber alles, was mir an menschlichen Emotionen bekannt war, passte nur zu bestimmten Teilen. War es also eine Mischung aus allen negativen Emotionen? Und dann belauschte ich wieder einmal ein Gespräch (jaja, ich weiß, das macht man nicht, aber alles für die Wissenschaft), in dem es um eine Person ging, die sich genau so verhielt wie ich es in den letzten Tagen beobachtet und gehört hatte, die verleitet durch diese rätselhafte Emotion, intrigant, gemein und berechnend wurde. Und die eine Person schloss das Gespräch kopfschütteld mit den Worten: „Was Neid mit einem Menschen macht, ist wirklich unglaublich.“
AHA! NEID! Das Kind hatte endlich einen Namen. Ich konnte also zum zweiten Teil meiner Recherche übergehen. Neid. Kann ja nicht so schwer sein. Dachte ich…Tatsächlich ist das Feld ein unendlich weites. Meine Liebe, Du glaubst nicht, was die Menschen alles erforschen und was sie dazu alles anstellen.
Unsereins würde sagen: Ok, Neid zerstört Beziehungen, Freundschaften und sogar Familien – also sollte man lernen, damit umzugehen. Denn offensichtlich kann man die Emotion an sich nicht abstellen, wenn man sie schon von klein auf in sich trägt. Also sollte man lernen, sich für andere zu freuen.
Die Menschen machen das aber anders. Denn das wäre zu einfach. Sie wollen das genau wissen. Sie wollen wissen, woher die Emotion kommt, wie lange sie schon den Menschen begleitet, welche Gehirnareale aktiv sind und ob es diese Emotion auch bei Tieren gibt. Und je mehr sie forschen, desto rätselhafter wird das Ganze. Denn natürlich kommen immer mehr Fragen auf. Deshalb machen sie noch mehr Versuche.
Wenn Du mich fragst, liebstes Huhn, ist das zwar alles interessant und spannend zu lesen (vor allem weil ich mich immer wieder über die Menschen wundern kann…), aber letzten Endes scheissegal. Denn im Grunde interessieren ja nur zwei Dinge:
Wie gehst Du mit Ihnen um? Die Neider, die missgünstig auf Dein Geschenk schielen und sich nichts sehnlicher wünschen, als es zerbrechen zu sehen. Und sind wir mal ehrlich: Die gibt es überall. Und es gibt sie ja nicht nur bei Geschenken, sondern auch bei Dingen, für die Du gearbeitet hast, für die Du all Deine Energien aufgewendet hast und auf die Du eigentlich stolz sein darfst und solltest. Ignorieren? Das Gespräch suchen? Meiden?
Und: Wie gehst Du selber mit dem Neid um?
Und bei allem Respekt der Wissenschaft gegenüber, aber für beides habe ich Lösungen gefunden, die absolut nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Für letzteres Problem eine einfache, aber wirkungsvolle Weisheit aus dem Rheinland:
Man muss auch gönnen können.
Und für das erste Problem, habe ich meinen guten Freund Seneca zu Rate gezogen. Und der sieht das ganz pragmatisch und rät uns:
Dem Neide wirst du entgehen, wenn du es verstehst, dich im Stillen zu freuen.
Ach, Huhn, ich bin schon echt froh, dass wir Hühner uns mit so komplizierten Geschichten nicht befassen müssen. Da bleibt ja kaum noch Zeit für was anderes, weil ja immer ein anderes Huhn weißere Federn hat, ein größeres Ei gelegt hat und mehr Körner in kürzerer Zeit picken kann. Naja, Menschen…
Es drückt Dich,
Deine Annemarie