x_gemasse_II

 

Liebste Annemarie,

vielen Dank für die schöne Geschichte – wie bewegend und wahr, aufrüttelnd und gleichzeitig trostspendend…wahrscheinlich kann sich jeder auf irgendeine Weise darin wiederfinden: Die Geschichte vom kleinen Bach – Bepanthen für die Seele…und dennoch machte sie mir auch irgendwie Sorgen um Dich. Warum ausgerechnet jetzt diese Geschichte? Und was lässt Dich keinen klaren Gedanken fassen? Was es auch ist, bitte sag es mir. Die Lösung findet sich leichter, wenn man zu zweit sucht. Also versuch bitte, Deinen Stolz mal Pause machen zu lassen und lass Dir unter die Flügel greifen. Auch das kann sich gut anfühlen, glaub mir.

Was in mir zur Zeit einen Haufen Fragen aufwirft, sind wieder einmal die Menschen und ihre verrückten Bräuche…Weihnachten zum Beispiel. Ich wundere mich jedes Jahr aufs Neue – ich könnte auch einfach mal damit aufhören, aber es geht einfach nicht. Menschen in der Vorweihnachtszeit sind einfach viel zu interessant, als dass ich sie ignorieren könnte. Wenn auch auf eine irgendwie verstörende, erschreckende Weise. Sie gehen auf in ambivalenten Verhaltensweisen, die geradezu psychotische Züge annehmen. Was sie natürlich nicht merken. Oder aber sie merken es, aber es ist egal. Schließlich ist ja Weihnachten. Und das machen alle so. Die Weihnachtspsychose als Volkskrankheit. Dabei nimmt der Virus einen schleichenden Verlauf: Zunächst schleicht er sich in Form von Lebkuchen, Spekulatius und Schokoladen-Weihnachtsmännern Ende August in die Supermärkte. Hier infizieren sich die ersten und schwupp, hat man Weihnachten im Haus. Andere lassen sich nicht so einfach infizieren, sie halten sich für immun, weil sie entweder „sowieso keinen Süßkram mögen und Marzipan und Lebkuchen schon gar nicht“ oder weil sie „den Weihnachtskram niemals vor November kaufen“. Aber spätestens, wenn sie das zehnte Mal an der weihnachtlichen Auslage vorbeilaufen, krampfhaft den Blick nach vorne gerichtet und ihr Mantra vor sich hin hurmelnd (nicht vor November, nicht vor November, nicht vor…ach, scheiss drauf), haben auch sie den Virus in sich.
So wuchert Weihnachten vor sich hin…bis zum November. Dann öffnen die ersten Weihnachtsmärkte, man macht sich für den 1. Advent bereit: Deko kaufen, Kerzen gerade richten, Sterne vom Dachboden kramen. Das Fieber steigt und erreicht seinen ersten Höhepunkt kurz vor dem 1. Advent. Schließlich müssen Kekse gebacken, Adventskalender vorbereitet und Deko-Schnee auf die Fenster gesprüht werden. Schlaflose Nächte. Ob man das noch alles schafft???? Auch hier scheiden sich die Geister in die organisierten Weihnachtsprofis, die schon am 24. November mit Lebkuchen im Ofen auf dem Sofa sitzen „Ha, komm doch, Du 1. Advent, ich bin bereit“, in die panischen Weihnachts-Chaoten „Was???? Ist es schon wieder soweit???“ und die verbissenen Weihnachts-Gegner, für die das ganze Konsum-Fest sowieso überflüssig ist (diese Dreiteilung kann für die gesamte Vorweihnachtszeit beibehalten werden).Wenn der 1. Advent geschafft ist, geht der Wahnsinn weiter. Im Schweinsgalopp hangelt man sich von Glühweinstand zu Glühweinstand, kauft zwischendurch Geschenke. Tauscht um. Kauft neu. Backt Kekse. Vergisst sie im Ofen. Backt neu. Am Rande des Wahnsinns. Isst zu viel. Verflucht die Weihnachtszeit, ist froh „wenn das endlich alles vorbei ist und man nicht mehr soviel essen muss….und überhaupt: dieser Stress. Jedes Jahr aufs Neue“. Nimmt sich noch einen Spekulatius zum Glühwein und hetzt weiter. Auf zum nächsten Geschäft. Für Oma noch nichts…ach ja, und Julia. Und Robert. Verdammt. Ein funkelnder, blinkender Weihnachts-Wahnsinn.

Und so spitzt sich das Fieber zu. Der Virus nimmt Höchstformen an und spätestens am 24. Dezember sind sie alle dem Virus erlegen.

Aber wenn man mal ehrlich ist: Ist es nicht auch irgendwie schön, dass es einen Tag im Jahr gibt, an dem die Menschen alle nahezu gleich sind: An dem alle das Bedürfnis nach Wärme, Nähe und Geborgenheit haben, an dem es einfach mal ruhig ist?

Nur ob der Wahnsinn vorher sein muss, das weiß ich nun wirklich nicht…

In diesem Sinne, gut Kekse-backen,

Dein Huhn

 

P.S.: Und denk dran, was ich man Anfang dieses Briefs geschrieben habe!

 

Senf dazu geben