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Zwei Wochen seit meinem letzten Brief und keine Antwort von dir. Zwei Wochen hold the line. Zwei Wochen voller Hoffen, Bangen, Trauern, Wut, Verzweiflung, Verständnis und – ganz wichtig – Selbstmitleid. Ja, darin sind Willi und ich wirklich Meister geworden. Wäre der Brief zurückgekommen, Empfänger unbekannt verzogen, ok. Keine Annemarie mehr da. Nie wieder. Aber so? Wo ist der Brief? Hast du ihn bekommen? Und wenn ja, hast du ihn gelesen? Oder ungelesen weggeworfen? Oderoderoder?? Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Und die läßt mir nur noch Raum für Selbstmitleid. Wirkliches, aufrichtiges, raumgreifendes Selbstmitleid. Die Sorte, die du gerne noch verstärkst. Du gibst es dir so richtig und guckst dir all die Fotos an, auf denen wir zusammen Spaß hatten. Gehst zu den Orten, an denen wir Geheimnisse geteilt und uns ewiges Schweigen allen anderen Hühnern gegenüber geschworen haben. Liest alle Briefe, in denen wir unsere absurdesten Gedanken und zweifelhaften Theorien offenbart haben. Nochmal und nochmal. Du gierst geradezu nach noch mehr Selbstmitleid. Deine Droge. Überlebenswichtig. Du bist süchtig. Und Willi ist der Co-Abhängige. Du verbannst alles, was deinen Serotonin-Spiegel wieder in die rechte Bahn rücken könnte. Vorhänge zu, kein Sonnenlicht. Essen? Fehlanzeige. Aufbauende Gespräche? Nope. Du brauchst das nicht. Was du brauchst, ist Selbstmitleid. Und irgendwie, denkst du, steht es mir auch ganz gut. Du bist schmal geworden. Harte Züge um den Schnabel lassen alles sanfte verschwinden. Das findest du gut. Du willst nicht mehr sanft sein. Sanft ist kacke. Das macht dich verletzlich. Du willst nicht mehr vereltzlich sein. Nie wieder. Ab jetzt bist du die unnahbare. Die coole Einzelgängerin. Dich umweht immer ein Hauch Selbstmitleid. Gekennzeichnet vom Leben. Dir kann keiner was vormachen, denn du wurdest schon mal richtig verletzt. Aber du bist nicht daran zugrunde gegangen. Was einen nicht umbringt, macht einen hart. Und das willst du sein. Für den Rest deines Lebens. Nie wieder soll dir jemand so nahe kommen. Und du brauchst auch niemanden, denn du hast ja dein Selbstmitleid. Deine neue beste Freundin. Immer da, top zuverlässig, auf Knopfdruck abrufbar. Du brauchst nichts anderes. Juhe.

…Annemarie, ich bin das nicht…bitte melde dich…ich will wieder ich sein…

Senf dazu geben