Sehr geehrter Herr Willi,
ich danke Ihnen sehr für die Zusendung der Briefe. Ja, Sie lagen richtig: Es handelt sich um diese sehr veraltete Form der Brieffreundschaft. Oder besser gesagt: handelte. Denn Annemarie ist ja – wie Sie selber wissen – nicht mehr da. Und wo sie ist, wissen weder Sie noch ich. Dabei sollte ich es noch am ehesten wissen, schließlich kannten wir uns schon so viele Jahre. Deshalb haben die Briefe großen Wert für mich und ich bin sehr froh, dass ich jetzt, da ich sie wieder hier sind, Klarheit habe. Dafür noch einmal vielen Dank. Ich weiß das sehr zu schätzen. Was ich allerdings nicht gut heißen kann, sind Ihre anmaßenden Worte über die Brieffreundschaft. Wer gibt Ihnen das Recht, über Kommunikationswege und Arten von Freundschaften zu urteilen? Offensichtlich waren Sie ja sensibel genug, zu erkennen, dass diese Briefe einen gewissen Wert für jemanden haben. Sie scheinen also emotional nicht vollkommen verkümmert zu sein. Warum dann noch diese Bemerkung über geblümte Briefpapiere? Wollen Sie damit Ihre Männlichkeit unterstreichen? War das der Versuch eines Witzes? Oder sind Sie einfach so? Wenn letzteres, kann ich verstehen, dass Sie niemals eine Brieffreundschaft führen werden, weil einfach niemand eine Freundschaft für notwendig hält. Denn wer will schon mit einem emotionalen Dummkopf befreundet sein? Ich hoffe daher sehr für Sie und für Ihre Mitmenschen, dass es sich um eine der ersten beiden Optionen handelt. Denn sowohl das eine, als auch das andere kann man noch mit Unsicherheit Ihrerseit entschuldigen und das hätte ja schon wieder etwas sympathisches.
So oder so – im Grunde ist es auch egal, denn da wir sowieso nie in den Genuss kommen werden, uns näher kennenzulernen und das hier mein erster und einziger Brief an Sie ist, brauche ich mir über Ihr Verhalten eigentlich keine Gedanken zu machen. Und darüber ärgern muss ich mich auch nicht. Es ist nur so, dass ich es grundsätzlich nicht leiden kann, wenn andere beurteilt werden von jemandem, der sie überhaupt nicht kennt, geschweige denn, einen Grund dazu hat. Und Sie, mein lieber Herr Will, hatten schon mal gar keinen Grund. Oder sehen Sie es etwa als Ihr Recht an, mir Ihre Meinung auzudrängen, weil Sie sich erbarmt haben, ein paar Briefe in einen Umschlag zu stecken und den zur Post zu bringen? Sind Sie so einer, der einmal etwas gutes tut und denkt, er darf dann alles?
Ich erwarte darauf keine Antwort – nein, ich bitte Sie sogar, sich die Mühe zu sparen. Wer weiß, was Ihnen als nächstes einfällt? Ich möchte einfach nur, dass Sie merken, wie unreflektiert Ihr Verhalten war. Vielleicht gibt es ja einen Funken Hoffnung und Sie schaffen es, sich dahingehend zu ändern und denken erst mal nach, bevor Sie ihren Schnabel aufmachen.
Und was das pro und Contra von Emails und Briefen angeht: Ja, auch ein briefeschreibendes Huhn bedient sich der modernen Kommunikationstechnologie – nur manchmal geht es nicht nur darum, dass eine Nachricht schnell ankommt, sondern es geht um die Sache Briefeschreiben selbst. Aber ich bezweifle, dass Sie das verstehen.
Ich wünsche Ihnen noch alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
Huhn.
P.S.: Ich bedaure übrigens sehr, dass Sie den gleichen Namen wie mein treuer Begleiter tragen, dem es niemals einfallen würde, anderer Hühner handeln zu beurteilen oder lächerlich zu machen.