26_Annemarie_Emotional_Correctness_02

Lieber Herr Willi,

ich weiß nicht, was es ist, das mich immer wieder dazu antreibt, Ihnen zu antworten. Es könnte mir egal sein, dass Sie unverschämt und anmaßend sind, dass Sie Grenzen überschreiten, indem Sie über mich urteilen, meine Intelligenz in Frage stellen und meinen, sich ein pyschologisches Urteil über mich bilden zu dürfen. Nein, es sollte mir egal sein. Es sollte mir egal sein, weil Sie ein Fremder sind. Weder Sie noch ich wissen irgendetwas über den anderen. Sie kennen meine Lebensumstände nicht, noch kennen Sie meine Vorlieben und Abneigungen. Sie kennen nicht den Klang meiner Stimme und Sie wissen nichts von meinen Angewohnheiten, täglichen Ritualen, meinen Splins, meinen Ängsten. Sie wissen nicht, woran ich mich erfreue und wofür ich mich interessiere. Und genauso wenig, wie Sie das alles von mir wissen, weiß ich irgendetwas von Ihnen. Das einzige, was wir teilen ist der Umstand, dass Sie von meiner langjährigen Freundschaft mit Annemarie wissen und in Ihrer Wohnung wohnen. Und dennoch ist es genau dieser Umstand, der mich antreibt, Ihnen zu schreiben. Sie sind meine einzige Verbindung zu Annemarie, weil Sie dort wohnen, wo Annemarie all die Briefe an mich geschrieben hat. Das mag esoterisch klingen, aber ich glaube, dass das kein Zufall sein kann.

Warum schreibe ich Ihnen das alles? Nun, ich war mir sicher, dass ich Ihnen nicht antworten werde, als ich den letzten Brief in meinem Briefkasten fand. Schon beim Lesen des Absenders stieg mein Puls – und zwar nicht aus Freude. Und als ich die ersten Zeilen las, stieg die Wut in mir hoch. „Was bildet sich dieser aufgeblasene Hahn nur ein?“ dachte ich. Ich war drauf und dran, den Brief einfach zu zerreissen. In möglichst kleine Stücke, damit es unmöglich ist, diesen Quatsch noch einmal lesen zu können. Denn – und das gebe ich jetzt nur zu, weil Sie mir ein Stichwort gegeben haben, zu dem ich gleich noch komme – Sie haben mich wirklich getroffen, mit dem, was Sie im P.S. geschrieben haben. Das war alles andere emotional correct. Und eben dieses Wort war es, dass mir sagte, dass es vielleicht noch eine andere Verbindung zwischen uns geben könnte, als der Umstand, dass Sie in Annemarie’s Wohnung wohnen. Wenn ein Hahn sich mit Emotional Correctness auseinander setzt, kann er weder ganz unbelesen, noch emotional verkümmert sein. Wieso setzen Sie sich mit Emotional Correctness auseinander? Und mit „Wieso“ meine ich hier ein ganz neutrales.
Ich kenne nicht viele Hühner, geschweige denn Hähne, die sich damit beschäftigt haben. Also verraten Sie mir doch ihre Beweggründe. Und verraten Sie mir auch, was Sie darunter verstehen, denn auch ich habe eine Haltung zu diesem Begriff und ich halte Ihn in der heutigen Zeit für besonders wichtig. Empathie ist das Stichwort, das ich in unserer Gesellschaft für unabdingbar halte. Und Empathie ist die Grundlage für Emotional Correctness:

To me, emotional correctness is about […] trying to find real compassion and connection with each other.

 

Soviel von Sally Kohn. Und auch, wenn sie sich auf die politische Lage in den USA bezog, so könnte dies doch als ein Credo für den allgemeinen, alltäglichen Umgang miteinander gelten. Ist das Utopie oder Notwendigkeit? Was sagen Sie dazu?

Und noch soviel: Wahrscheinlich gehöre ich zu der Sorte Huhn, die von sich selbst viel fordern und das auch von anderen tun. Aber ist das nicht immer noch besser, als gar nichts zu fordern und alles einfach mit einem Schulterzucken hinzunehmen, nach dem Motto: Was kann ich schon ändern? Erfordert das nicht auch ein hohes Maß an Selbstreflexion? Und ist Selbstreflexion nicht die Basis für Empathie? Gut, vielleicht verlange ich manchmal zu viel. Vielleicht fällt es mir schwer, zu akzeptieren, dass nicht jeder immer korrekt handelt. Aber ist das nicht immer noch besser, als darüber hinwegzusehen?

Möglicherweise lehne ich mich gerade sehr weit aus dem Fenster und Sie fragen sich, was dieser ganze Bockmist soll und ob dieses Huhn einfach nur irre ist. Dann zerreissen Sie bitte diesen Brief und antworten mir bitte auch nicht mehr. Denn das wäre dann mehr als peinlich für mich, dass ich vor Ihnen diesen emotionalen Striptease hingelegt habe. Ich denke, Sie sind Gentle-Hahn genug und verstehen das.

Ihr Huhn.

P.S.: Und sollten Sie mir doch antworten, nehmen Sie gefälligst das mit Willi zurück, sonst komme ich persönlich zu Ihnen und fordere die Entschuldigung ein!

 

Senf dazu geben