Meine liebe Frau Huhn,
ich muss Sie enttäuschen: Ihre Vergangenheit kam nicht annähernd so überraschend für mich, wie Sie glauben. Ich glaube, Sie unterschätzen mich und meine empathischen Fähigkeiten. Aber angesichts Ihrer karrierelastigen Vergangenheit kann ich es Ihnen wohl kaum übelnehmen, dass Sie in den meisten (wenn nicht sogar allen) männlichen Wesen rücksichtslose Egozentriker sehen, gegen die Sie sich behaupten müssen. Nun würde ich mich nicht als wankelmütiges Weichei bezeichnen, denn ich weiß durchaus, was ich will und stehe meinen Hahn prinzipiell, aber ich würde mir dennoch etwas mehr empathische Fähigkeiten und emotionale Offenheit als vielen anderen meiner Gattung zusprechen. Und um Ihnen das zu beweisen, werde ich Ihnen schreiben, wie es mir geht. Nichts besonderes, denken Sie vielleicht jetzt. Man fragt und erzählt sich ja ständig, wie es einem geht: „Und wie geht’s Dir so?“ „Gut, danke.“ „Joa, läuft.“ Oder mein persönlicher Favorit: „Schlechten Menschen geht’s immer gut.“ Da kräuseln sich mir die Flügel. Na ja, werden Sie einwenden, man kann ja nun auch nicht durch die Gegend laufen und jedem seine aktuelle Gefühlslage darlegen und da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Schließlich ist das „Wie geht’s“ auch ein Kommunikator, durch den man ins Gespräch kommen kann. Dementsprechend vielleicht eine Floskel für den Smalltalk oder den Einstieg ins Gespräch, aber eine sehr wichtige. Aber manchmal erscheint es mir, als ob die Floskelei auch auf unsere innigeren Beziehungen übergegangen sind. Fragen Sie sich doch einmal selbst: Wie oft haben Sie auf die Frage „Wie geht es Dir“ einem Freund, einem Familienmitglied oder sogar Ihrem Partner geantwortet „Gut, danke.“, obwohl es Ihnen alles andere als gut ging. Sei es, weil Ihnen das Thema unangenehm war, weil Sie einfach nicht darüber sprechen wollten oder weil es Ihnen um des lieben Friedens wegen vernünftiger vorkam, den Schnabel zu halten. Wie oft? Ich nehme frecherweise einfach mal an, dass das ein doch nicht zu verachtender Anteil ist. Ich würde sogar so weit gehen, dass es den größeren Anteil im Vergleich zu den ehrlichen Antworten bezüglich Ihrer Gefühlslage ausmacht.
Und genau deshalb, liebe Frau Huhn, ist es etwas Besonderes, wenn ich Ihnen jetzt schreibe, wie es mir wirklich geht. Veranlasst dazu hat mich ein Foto Ihrer Freundin Annemarie, das ich heute Vormittag in einer Ecke im Wandschrank fand und auf dem sich Ihre Freundin, offensichtlich stark vergrippt, abgelichtet hat (es ist übrigens sehr rührend, dass Sie sich offensichtlich Fotos voneinander geschickt haben, denn auf der Rückseite werden Sie einen angefangenen Text an Sie finden). Ich hatte eigentlich den Wandschrank nur umräumen wollen, um Platz für Haushaltsgegenstände zu schaffen – unter anderem eine Familienpackung Taschentücher, denn ich bin gerade mindestens so vergrippt wie es Ihre Freundin auf dem Foto war – und dann hat es mich wortwörtlich umgehauen. Ich weiß nicht, ob es die Grippe war, das Foto, das für Ihre Freundschaft sprach, die Tatsache, dass die wegen der Erkrankung aufgezwungene freie Zeit mich zum Nachdenken brachte, Ihre Geschichte aus Ihrer Vergangenheit – oder eine Kombination aus allem: Plötzlich fühlte ich mich leer und einsam. Und ich begann mich zu fragen, was das hier alles soll. Tag ein Tag aus rennst du den Aufträgen hinterher, arbeitest wie bescheuert. Am Tag, in der Nacht. Am Wochenende überlegst du dir neue Strategien, bereitest Artikel oder Akquise vor, während deine Freunde, die du seit Monaten nicht mehr gesehen hast, Familie gründen, andere Freunde treffen, raus fahren… leben. Und du bist immer irgendwie getrieben, musst weiter, kannst nie länger als eine Stunde irgendwo sein, hast immer einen Job und bist unzufrieden, wenn du mal einen Tag frei hast. Bisher war das kein Problem. Außer Nachts, dann kamen die Zweifel und Überlegungen, aber die konnte ich dann wegarbeiten oder ich bin irgendwann über den Zweifeln eingeschlafen. Ein paar Stunden später wieder wach. Ist es schon morgens? Nein, vier Uhr nachts. Ok, du solltest noch ein bisschen… viele Tage mit viel zu wenig Schlaf machen eine harte Schale brüchig. Und vielleicht ist das nun die Retourkutsche meines Körpers. Aber warum, frage ich mich, bin ich plötzlich nicht mehr zufrieden mit dem, was ich hier habe? Ich habe mich immer für eine Insel gehalten, für ein freies Federvieh, das sich selbst am nächsten ist und plötzlich hege ich diesen Wunsch, anzukommen und keine Insel mehr sein zu müssen.
Würde mich heute jemand fragen, wie es mir geht, würde ich antworten: „Krank. Ich fühle mich krank.“ Wahrscheinlich würde niemand die wahre Bedeutung dieser Worte verstehen ob meines verschnupften Schnabels und mir einfach gute Besserung wünschen. Aber bei Ihnen, Frau Huhn, ist das etwas anderes. Da bin ich mir sicher. Sie lesen zwischen den Zeilen. Sie fragen nach und lassen sich nicht von einem gekünsteltem „Alles gut.“ abwimmeln. Und deshalb würden Sie auch verstehen, was es bedeutet, wenn man sich nicht nur körperlich krank fühlt, weil man eine Grippe hat, sondern sich krank im Leben fühlt, weil ein Bild das man von sich selber hatte plötzlich nicht mehr passt und man sein komplettes Selbstbild neu aufstellen muss.
Noch habe ich die Hoffnung, dass es nur eine virenbedingte Phase ist, die sich in den nächsten Tagen von allein erledigt, aber irgendetwas sagt mir, dass dem nicht so ist…
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie von der Grippewelle verschont bleiben und freue mich auf Ihren nächsten Brief…
Ihr Willi