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Lieber Herr Willi,

um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist vollkommen ok, wenn Sie das „Sie“ vorziehen. Das „Du“ ist natürlich auch ein gewagter Schritt, geradezu der Sprung in ein heißes Liebesabenteuer. Da gebe ich Ihnen Recht. Wir bleiben definitiv auf der sicheren Seite, wenn wir es beim „Sie“ halten. Savety first.
Im Ernst: Ich habe genauso wenig Interesse daran wie Sie, mich zu verlieben – ich mag mein Leben, wie es ist und lasse mich nur ungern durcheinander bringen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ein „Du“ noch lange kein Liebesabenteuer mit sich bringt. Aber ich respektiere natürlich Ihre Haltung und Ihren Wunsch, bei der förmlichen Anrede zu bleiben. Zumal ich den auch ehrlich gesagt ein wenig Ihrer momentanen Verfassung zuschreibe. Und damit meine ich nicht Ihren temporären Zustand beim letzten Brief. Obwohl es mir auch schon irgendwie geschmeichelt hat, dass Sie Ihren Abend-Drink mit mir teilen…
Aber seien Sie beruhigt, Ihre Ausführungen über Ihren Seelenzustand sind bei mir in guten Händen. Vor allem, weil ich sehr gut nachvollziehen kann, wie Sie sich gerade fühlen. Wie Sie ja bereits wissen, habe auch ich eine Zeit durchlebt, in der es einzig und allein ums Funktionieren ging. Ich weiß, was es bedeutet, jeden Tag auf’s Neue durchhalten zu müssen. Was es bedeutet, schon am Morgen den Abend herbei zu sehnen, damit der Tag und die Anstrengung ein Ende hat und man sich einfach nur wieder ins Bett verkriechen kann. Aber wenn man dann im Bett liegt, kreisen die Gedanken, man findet keine Ruhe, schläft wenig bis gar nicht und am nächsten Morgen wacht man auf mit einem Kater, obwohl man gar nichts getrunken hat.
Nur lieber Herr Willi, wie lange soll das noch gut gehen? Wie lange wollen Sie das noch aushalten? Na klar, unsere Gattung hält viel aus. Wir sind zäh. Aber auch bei uns ist irgendwann das Fass voll. Vielleicht denken Sie: Vorher werde ich die Reissleine ziehen. Nur: Wann ist vorher? Woher wissen Sie, wann das Fass voll ist? Woher wissen Sie, der wievielte Tropfen das Fass zum überlaufen bringt? Das Problem ist: Sie wissen es nicht. Sie können es nicht wissen. Und genau das macht es auch so schwierig. Aber weil wir das nicht wahrhaben wollen, verdrängen wir die Tatsache, dass das Fass überhaupt irgendwann überlaufen kann. So lange wir das ignorieren, kann ja nichts passieren, oder?

Mein lieber Herr Willi, ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber wenn Sie doch schon erkennen, dass etwas nicht stimmt, dass Sie so nicht weitermachen können, tun Sie doch etwas dagegen! Ja, ich weiß es ist schwer. Verdammt schwer. Sie haben Verpflichtungen, Sie müssen Rechnungen bezahlen und dann ist da noch die größte Hürde: Sie selbst. Sie glauben, wenn Sie nicht weitermachen, sind Sie ein Versager, haben es nicht gebracht. Sie sind ein Niemand. Und dieser Niemand wird schneller ersetzt, als Sie den Lichtschalter betätigen können. Richtig?

Aber denken Sie auch an den Willi, der gesund bleiben will. Denken Sie an den Willi, der tief in Ihnen ist, der Rebell, der sich sagt: Scheiß drauf. Ich bin jetzt mal dran. Sie sind doch ein Pragmatiker oder? Genauso wie ich. Also denken Sie einfach pragmatisch und fragen sich: Was ist jetzt wichtig für mich? Was bringt mich weiter? Denken Sie langfrisig. Denken Sie pragmatisch. Und nehmen Sie sich eine Auszeit.
Und jetzt mein lieber Herr Willi, nehme ich zum wiederholten Mal meinen ganzen Mut zusammen und mache Ihnen ein Angebot: Kommen Sie zu uns aufs Land. Keine Sorge, Sie sollen hier nicht ausspannen und ich werde Sie nicht zwingen, faul in der Sonne zu liegen. Ich brauche gerade dringend jemanden, der mir hier zur Hand geht. Also keine Gefahr, sich zu verlieben. Sie haben Ihr eigenes Zimmer, Ihr eigenes Bad. Sie arbeiten hier ein wenig und ansonsten lasse ich Sie in Ruhe.

Was sagen Sie dazu?

Herzlichst,

Ihre Frau Huhn

Senf dazu geben