Liebe Huhn,
so schnell kann’s gehen mit der Meinungsänderung zum Duzen und Siezen. Und jetzt, da ich wieder in meiner Wohnung sitze und mich versuche, in alten Strukturen und wohlbekannten Mustern einzufinden, merke ich, wie schön und befreiend es sein kann, seine Meinung zu ändern. Ich merke aber auch, dass sich etwas in mir sträubt, sich wieder in den alten Strukturen einzufinden. „Wahrscheinlich ist es nur am Anfang hart“, versuche ich, mir ein zu reden. Nur, wenn man einmal erfahren hat, wie gut es tut, etwas anders zu machen, will man nicht mehr in alte Strukturen: Wer Schokolade nicht kennt, vermisst sie nicht. Aber wer einmal den Geschmack von Schokolade erlebt hat, möchte ihn wieder erfahren.
Klar, das Huhn ist ein Gewöhnungstier. In einer, vielleicht zwei Wochen wird der alte Rhythmus wieder da sein, bekannte Strukturen sind wieder zum Automatismus geworden und alte Muster wieder handlungsweisend sein. Aber will ich das noch? Jetzt, da ich einmal aus all dem ausgebrochen bin, scheint es mir unmöglich, wieder dorthin zurück zu kehren. Ein Teil von verflucht schon die Entscheidung, bereuht es, den Blick über den Tellerrand gewagt zu haben. Aber der andere Teil weiß, dass es gut und richtig war. Und notwendig. Um zu verstehen und zu erleben, dass es so nicht weitergehen kann. Wie es weitergehen kann, weiß ich allerdings nicht…
Meine Liebe, die Tage bei dir waren unbeschreiblich. Ich bin froh, den Schritt gemacht zu haben und deine Einladung angenommen zu haben. Von dem Moment, an dem ich die Tür hinter mir zugezogen habe, um mich auf den Weg zu dir zu machen, schien aller Druck von mir abzufallen. Mit jedem Kilometer in deine Richtung fühlte ich mich leichter. Und als ich bei dir ankam, war der ganze Stress vergessen. Ja, es klingt kitschig und abgelutscht, aber: Ich fühlte mich wie neu geboren. Vielleicht war es die klare Luft, die Weite, die andere, körperliche Arbeit, das bessere Essen (und nicht dieser Dosenfraß, den ich mir sonst aus Zeitmangel und Mangel an Liebe zu mir selbst reingeschaufelt habe), vielleicht auch eine Mischung aus allem – und naja, nicht zuletzt eine Gastgeberin, die mir in jeder Situation das Gefühl gegeben hat, dass es ok ist. Dass ich ok bin. Und dann natürlich Willi, der kleine Haudegen. Ich war erstaunt, wie gut wir uns auf Anhieb verstanden haben. Fast schon könnte man es Liebe auf den ersten Blick nennen (würde man an so etwas glauben). Ich vermisse den kleinen Wurm jetzt schon. Und…naja, dich vermisse ich auch. Ich vermisse die Felder, die Apfelbäume, die Arbeit und dieses großartige Bett. Gott, hab ich gut geschlafen darin! Ich wusste gar nicht, dass ich das kann: Durchschlafen. Ist ja gar nicht so verkehrt. Aber jetzt scheint mir das wieder unmöglich. Genauso unmöglich, wie meine Arbeit, die hier vor mir liegt. Genauso unmöglich, wie alles, was hier vor mir liegt. Es ist ein Zustand der Ambivalenz und der macht mich gerade fertig: Auf der einen Seite bin ich froh (und auch ein wenig stolz), all diese Erfahrungen gemacht zu haben und den Mut aufgebracht zu haben, auszubrechen – was mir wirklich schwer fiel. Die Tage bis zur Entscheidung waren die Hölle. Ich habe hin und her überlegt, alle Eventualitäten abgewägt. habe mich entschieden und wieder umentschieden. Naja, und dann war es auf einmal doch ganz einfach, aus der Tür zu gehen und loszufahren. Hat mich selber überrascht.
Auf der anderen Seite bin ich aber auch wütend. Auf mich, weil ich diese eine Eventualität, dass mich ein paar tage auf dem Land so aus meiner Welt herausreissen können, nicht bedacht habe. Dass mir dieser kleine, aber entscheidende Fehler unterlaufen ist. Denn jetzt will ich nicht mehr zurück. Also was tun? Und fast bin ich ein auch wenig wütend auf dich: Ich glaube, du hast das alles schon gewusst. Du hast gewusst, wie gut der Mut, sich zu lösen, schmeckt. Und jetzt sitze ich hier, allein mit diesen lähmenden, ambivalenten Gefühlen. Unfähig, etwas Sinnvolles zu tun. Ja klar, in ein paar Tagen wird auch das überwunden sein. Alles wird seinen gewohnten Gang gehen. Also sieh es als Kompliment (wenn auch eine merkwürdige Art, Komplimente zu machen, das gebe ich zu). Aber: Bisher hat noch niemand meine Welt so ins Wanken gebracht. Ja, so sieht das aus, meine Liebe. Da siehst du, was passiert, wenn man sich das „Du“ anbietet. Ich hab’s dir gesagt…
Dein (verwirrter)
Willi