Liebe Huhn,
seit zwei Wochen sitze ich jeden Abend mit deiner adventlichen Aufmerksamkeit vor mir am Tisch und versuche, für mich greifbar zu machen, was gerade in mir passiert. Ich versuche, eine Entscheidung zu treffen und ich muss sagen, dass es mir sehr leid tut, dich zwei Wochen lang in der Schwebe gelassen zu haben. Aber mittlerweile müsstest du mich gut genug kennen, um dir denken zu können, dass ich als kopflastiges Tier alle Pro und Contra Punkte und alle Eventualitäten durchgehe, bevor ich mich zu einer Entscheidung durchringen kann.
Nach all den Überlegungen, in die ich deine Worte zum Ankommen einbezogen habe, war die Entscheidung klar. Dann wieder nicht. Dann dachte ich an die schöne Zeit bei euch und für einen kurzen Moment war die Entscheidung wieder klar. Dann wieder nicht. „So langsam wird es albern, mein lieber“, dachte ich zu mir selbst. Das war heute. Da saß ich mit deinem letzten Brief am Schreibtisch, deine adventliche Überraschung vor mir und habe die letzten Krümel deines Stollens, der wirklich ganz unglaublich gut ist (war) verputzt. Im Radio lief Chris Rea. Einer der wenigen Weihnachtsklassiker, die im Radio gespielt werden und die ich wirklich mag. „Driving home for Christmas.“ Jedes Jahr im Radio. Und jedes Jahr löst es eine Welle der Melancholie in mir aus. Denn seit Jahren frage ich mich jedes Jahr, wie es wäre, wenn man an Weihnachten nach Hause fahren würde. Wenn da jemand ist, auf den man sich freut und der sich auf dich freut. „Oh, I can’t wait to see those faces.“ Wie schön das wäre. Aber so ist es bei mir nicht. Nicht mehr. Und immer sehne ich mich an die Zeit zurück, in der es noch so war. In der ich am 24. Dezember nach der Arbeit nach Hause gefahren bin, mich auf die Gesichter der Küken gefreut habe. Auf ihre leuchtenden Augen, wenn sie die Geschenke ausgepackt haben. Und auf die Stunden, wenn die Kleinen im Bett waren und meine Frau und ich Zeit für uns hatten. Meine liebe Frau. Die immer alles im Griff hatte. Sich um das Essen und die Geschenke gekümmert hat, während ich Überstunden gemacht habe. Im Büro saß und die Arbeit für wichtiger hielt, als ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. Immer hatte sie Verständnis, hat mir noch den Rücken gestärkt, hat tapfer ihr Lächeln behalten und mich glauben lassen, dass alles ok sei. Und ich habe es einfach nicht gesehen. Habe nicht gesehen, wie sehr sie sich gewünscht hat, dass ich einfach nur mal da bin. Ihr den Rücken stärke.
Nun ist das vorbei. Seit fünf Jahren sitze ich Heilig Abend alleine vorm Rechner und arbeite einfach weiter. Tue so, als ob es ein Tag wie jeder andere ist, damit ich nicht merke, dass ich einsam bin. Aber irgendwann holt es dich ein. Und das passiert gerade. Die Tage bei euch und deine Advents-Überraschung, deine Einladung, Weihnachten bei Euch zu verbringen, haben alles plötzlich präsent gemacht. Ich habe dir das nie erzählt, ich bin ein Meister des Schweigens, wenn es um Dinge geht, die mich belasten oder die mich belasten würden, würde ich ihnen Raum geben. Das wollte ich nicht. Denn ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass ich ein blinder Hahn war, der jahrelang rein gar nichts gemerkt hat. Und diese Erkenntnis ist hart. Deshalb fällt mir die Entscheidung schwer. Auf der einen Seite wünsche ich mir nichts sehnlicher, als Weihnachten wieder mit jemandem verbringen zu können, der mir das Gefühl von Heimat gibt. Diese Heimat habe ich bei dir und Willi das erste Mal seit langer Zeit erlebt. Ich wünsche mir genau die Art des Ankommens, wie du sie beschrieben hast. Aber ich muss zugeben, ich habe auch Angst davor. Angst, dass die Emotionen mich überrumpeln und diesmal ich derjenige von uns beiden bin, der einen Seelenstriptease hinlegt (wenn ich das hier nicht schon gerade tue). Andererseits…
Ach, weißt du meine Liebe, man lebt nur einmal. Und in diesem einen Leben sollte man vor allem eins: Seinen Wünschen einen Raum geben und alles daran setzen, dass sie sich erfüllen. Und deshalb habe ich mich jetzt gerade in diesem Moment dafür entschieden, meinem Wunsch „drivin home for Christmas“ zu Erfüllen.
Wir sehen uns…sehr bald.
Dein Willi.
P.S.: Keine Sorge, ich bin zwar ein grausamer Entscheidungsfinder, aber wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, steht sie felsenfest.