Meine Liebe,
„Viel zu oft vergisst man, dass zum Leben mehr gehört, als Glücksmomente und man vergisst, dass sich alles verändert.“
hast Du in Deinem letzten Brief geschrieben, der mich wirklich überrascht hat. Du warst doch immer diejenige, die das Unstete bis zur Perfektion gelebt hat. Rastlosigkeit als Lebenseinstellung, als Religion, über die nichts gestellt wird. Die Deine Tage strukturiert und dominiert hat. Ehrlich gesagt, habe ich mich immer gefragt, wie lange das gut gehen kann. Aber Du bist so darin aufgegangen, dass jeder Satz von mir in diese Richtung abperlte. Umso mehr freut mich, dass Du offenbar Deine Sicht auf die Dinge geändert hast. So langsam fängst Du also tatsächlich an, zu leben anstatt zu funktionieren. Wer hätte das gedacht? Diese Reise muss Dich ja von Grund auf umgekrempelt haben. Ich möchte zu gern wissen, was Du alles erlebt hast…
Heute habe ich bei meinem täglichen Spaziergang über Dich, die Autobahn und das Glück nachgedacht und mich gefragt, welche Rolle Ziele bei Deiner Theorie haben. Ich erinnere mich an die Annemarie, die immer klar das Ziel vor Augen hat. Die das Konzept liebt und weiß, zu welchem Zeitpunkt was zu tun ist. Jetzt scheint es ja fast so, als ob Du von den strikten Konzepten Abstand genommen hast. Ich habe es immer bewundert, wie Du dir deine Ziele gesteckt und dann auch umgesetzt hast. Habe mich aber auch gefragt, wann Du Zeit zum Atmen findest… Als ich heute durch die Landschaft spazierte (Willi ist zu Hause geblieben, er kränkelt etwas), über verschlungene Pfade und durch den Wald, ohne Plan und Ziel, einfach meinem Gefühl folgend, bin ich irgendwann auf einer Lichtung gelandet. Ich hatte bisher gar keine Ahnung, dass es eine Lichtung in dem Abschnitt des Waldes gibt. Es sah aus wie gemalt: Schräg fallende Lichtkegel ließen die Umgebung unwirklich erscheinen. Es war ein bisschen wie in einem Traum…ich stand so da, überwältigt von dem Anblick und plötzlich kamen Rehe aus dem Dunklen. Und Du weißt, wie scheu und gleichzeitig schön sie sind und dass sie vor uns Hühnern oft erschrecken…ich habe also ganz still gestanden und sie beobachtet wie Sie auf der Lichtung grasten. Annemarie, wann hast Du das letzte Mal Rehe gesehen? Am liebsten hätte ich den Moment eingefroren…aber wie Du schon sagtest: Nichts bleibt stehen, alles verändert sich. Und so wie die Rehe irgendwann weiterzogen, bin auch ich wieder meinen Weg gegangen. Ein kurzes Zusammentreffen, das meinen Blick wieder ein wenig verändert hat. Und das, weil ich ohne Ziel und Konzept durch den Wald gegangen bin. Wäre ich meine Stamm-Route gegangen, bei der ich jeden Ast und jeden Grashlam kenne, hätte ich diesen Anblick nicht erleben können. Bestimmt hätte ich genau den meditativen Zustand erreicht, den Du auf der Autobahn beschreibst und bestimmt wären mir auch neue Ideen gekommen – aber diese hätten auf bereits Gesehenem und Erlebten basiert. Also liebe Annemarie, wie sieht’s aus mit deinen Wegen und Zielen? Fährst Du auch mal ab, wenn Du so auf der Autobahn dahin rauschst und guckst, was es auf Deinem Weg gibt? Änderst Du deine Route auch mal? Und wenn ja, warum änderst Du sie? Nur, um einen Stau zu umgehen und Dein Ziel möglichst in der geplanten Zeit zu erreichen oder weil Dir danach ist und Du schon immer mal wissen wolltest, was hinter der Abfahrt mit dem lustigen Namen verbirgt? Wieviel Raum hat Dein Tag für Unvorhergesehenes, Spontanes? Du weißt, ich bin ein Fan von Strukturen, aber ich liebe eben auch solche Momente, die Deinen Ablauf völlig aus der Bahn werfen. Ich glaube: Zu dem intrinsischen Glück, wie Du es beschreibst, gehören die Strukturen ebenso wie der Raum für Ungewohntes. Immer nur die A7 ist doch langweilig. Klar, es gibt Dir eine gewisse Sicherheit. Du kennst die Strecke In- und Auswendig. Im Grunde kann Dir nichts passieren. Aber wenn Du dann mal Deine Route ändern musst, bist Du völlig von der Rolle. Das Ungewohnte macht Dir Angst. Und warum? Weil Du Dein Vertrauen auf Vertrautes gebaut hast. Nicht auf Deine Fähigkeiten. Natürlich weißt Du auch auf einer anderen Route, wie man Auto fährt. Aber die Angst vor dem Ungewohnten lässt Dich Deine Fähigkeiten vergessen.
Du schreibst, dass Du das Leben mit all seinen Emotionen, Höhen und Tiefen auskosten willst. Aber tust Du das wirklich? Oder bist Du nur verliebt in diese Idee, während Du weiter auf Dir bekannten Strecken dahin rauschst?
Es wird langsam spät und mir fallen die Augen zu…eine gute Nacht und bis bald,
Dein Huhn