Liebstes Huhn,
kennst Du das, wenn Du eine Idee hast und Du einfach den Anfang nicht findest? Ich frage mich dann immer, woran liegt das? Ist es die Angst vor dem leeren Blatt? Davor, etwas falsch zu machen? Wie oft fangen wir etwas nicht an, weil wir uns nicht entscheiden können? Aber warum können wir uns nicht entscheiden?
Du fragst, wieviel Raum in meinem Leben für Unvorgesehenes und Spontanes ist. Aus Deiner Frage lese ich, dass Du die Antwort schon weißt. Oder glaubst, zu wissen. Du hast dieses Bild von mir, von der umtriebigen, immer beschäftigten Annemarie, die sich Ziele setzt, Konzepte macht und sie dann auch durchzieht. Komme, was wolle. Und auch, wenn Du eine gewisse Sorge und ja, vielleicht auch Bewunderung gegenüber meines zielstrebigen Lebensstils ausdrückst, ist da auch eine provokante Forderung in Deiner Frage. Wieviel Raum ist also in meinem Leben für Unvorhergesehenes und Spontanes? Die Antwort wird Dich nicht überraschen: Wenig.
Aber: Ist das nun positiv oder negativ? Oder ist es einfach nur Fakt? Ohne jede Wertung. Ich gebe Dir Recht, dass eine gewisse Offenheit für zielloses Umherwandern durchaus förderlich für jede Art der Lebensführung ist, dass sie uns hilft, uns selbst und unseren Fähigkeiten zu vertrauen. Dass unser Leben von den so eingefangenen neuen Eindrücken bereichert wird.
Du fragst nach dem Wieviel, aber nicht nach dem Wie: Wie nutze ich die wenigen Momente, in denen ich offen bin für Ziellosigkeit? Wie intensiv sind diese wenigen Momente? Und letztendlich: Wie kommt man dahin? Für Dich, meine Liebe, ist es ein leichtes, sich neuen Wegen zu öffnen, Pläne zu ändern oder sogar, keinen Plan zu haben. Dabei vergisst Du aber, dass es nicht für jeden so ist. Für die meisten von uns ist Sicherheit im Leben die tragende Säule. Und das ist, wie ich finde, absolut legitim. Wieviel Entscheidungen müssen wir jeden Tag treffen? Angefangen von vermeintlich banalen wie Dinkel oder Weizen bis hin zu den großen: Beruf, Partner, Wohnung, Lebensversicherung (Anm. d. Redaktion: Auch Hühner brauchen eine Altersvorsorge..), wann, wer, wie, wo,…undsoweiterundsofort. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass man sich für das entscheidet was am sichersten erscheint. Sei es, weil die Fakten dafür sprechen oder weil man es kennt und die Konsequenzen der Entscheidung abschätzen kann. Entscheide ich mich für das Unbekannte, gehe ich ein Risiko ein. Und um das tun zu können, brauche ich Mut und dafür widerrum Vertrauen. Habe ich dieses Vertrauen in mich, meine Fähigkeiten und – ach, was soll’s – in den Lauf des Lebens nicht (aus welchen Gründen auch immer), habe ich genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehe den ewig gleichen Weg. Der ist sicher, das Risiko absehbar und die Chance, zu scheitern ist gering. Gut, manchmal wird mir vielleicht langweilig und ich schiele neidisch auf die Hühner, die zu mehr Risiko bereit sind. Aber, hey, auf der anderen Seite ist das Gras ja bekanntlich immer grüner und außerdem geht’s mir ja gut. Kein Grund, mich zu beklagen – auch, wenn ich mich nie ganz vollständig fühle…
Oder ich nehme das Gefühl der Unvollständigkeit ernst und fange an, etwas zu ändern. Dummerweise geht das ja nun nicht von selbst, sondern ist harte Arbeit. Einen Umstand, den Du vielleicht vergessen hast, meine Liebe. Es ist ja nun nicht so, dass eine Änderung sich vollkommen problemlos vollziehen lässt. Prozesse haben eine dumme Eigenheit: Sie sind anstrengend und mitunter ziehen sie sich in die Länge. Mal geht es wie von selbst und dann wieder erscheinen sie wie ein zäher Brei. Und das ist ja nun allseits bekannt. Ist es da also verwunderlich, wenn man einen Änderungsprozess gar nicht erst beginnt? Lassen wir das Blatt doch lieber weiß. So war es doch und so war es gut. Ok, vielleicht wäre es schöner, wenn etwas darauf wäre, aber jeder Strich auf einem Blatt Papier ist eine Gradwanderung: Kann gut gehen, kann aber auch in die Hose gehen.
Du fragst, ob ich nur verliebt bin in die Idee von einem Leben voller Allem, während ich weiter auf bekannten Strecken dahinrausche. Die Antwort ist: Ja! Natürlich bin ich verliebt in die Idee von diesem Leben und natürlich rausche ich auch weiterhin auf bekannten Strecken. Denn ich kann mich nicht von jetzt auf gleich in vollkommen Unbekannte Wege stürzen. Du könntest es, ich weiß. Aber auch das ist wieder eine Frage, wieviel man leisten kann. Das Wichtigste ist doch die Bereitschaft, auch mal von der A7 ab zu fahren und nicht nur, weil Stau ist, sondern einfach so. Und ob man das nun jede Woche, jeden Monat oder nur einmal im Jahr macht, ist doch erst mal gleichgültig. Hauptsache, man macht es.
Meine Liebe, Du weißt, dass ich Deine Art zu leben sehr bewundere. Aber ich sehe auch, dass Du manchmal etwas hart mit anderen ins Gericht gehst. Du verlangst Dir und anderen viel ab und manchmal machst Du dir ein Bild von jemandem, das sich dann manifestiert. Deshalb frage ich Dich heute: Wie offen bist Du für Neues?
Ich bin gespannt…
Deine Annemarie
P.S…wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Dir von meiner Reise berichten…