Liebste Annemarie,
Dein letzter Brief hat mich wieder einmal überrascht – woher kommt denn der forsche Ton auf einmal? Nicht, dass es mir missfallen würde, aber so kenne ich Dich gar nicht. Die alte Annemarie hätte meinem Kontra und meinen provokanten Fragen klein bei gegeben. Noch vor einem Jahr hättest Du mit einem „Oh ja, Du hast Recht“ geantwortet und Dich womöglich noch entschuldigt für Dein Unvermögen…oder sogar für Deine Existenz. Unter uns: Deine Vorliebe, sich für alles und jeden entschuldigen zu müssen, hat mich immer schon genervt. Aber das scheint generell ein sich fortsetzender Trend zu sein: Vor ein paar Tagen wollten Willi und ich eigentlich einen Ausflug zum See machen. Ich hatte in der vorherigen Woche wenig Zeit für ihn und wir haben uns beide sehr auf einen Tag mit Sonne, Picknick und einem guten Buch gefreut. Naja, dann kam Wetter. Und was für eins: Es war so stürmisch und hat gegossen wie aus Eimern. Wir haben also unser Picknick auf die Fensterbank verlegt und uns die Regentropfen auf der Fensterscheibe angeguckt…und ich dachte noch: „Wie gut, dass wir es uns in jeder Situation schön machen können!“ Aber mit Willi stimmte irgendetwas nicht. Erst dachte ich, er sei nur traurig, weil der See-Ausflug ins Wasser gefallen ist, aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Er mag ja gerne Regentropfen beim Wandern auf der Fensterscheibe beobachten. Ich fragte ihn also „Willi, was ist los mit dir?“ Er druckste herum. Irgendetwas schien ihm sehr schwer drauf zu liegen. „Ich…ich…das ist alles meine Schuld…“ stammelte er. „Was ist deine Schuld?“ wollte ich wissen. „Naja, das mit Wetter…und dass wir jetzt nicht an den See und so…“ „Wie kommst du denn darauf?“ Er guckte verschämt in seinen Tee. „Also weil ich gestern das Mittagessen nicht aufgegessen habe…und wenn man den Teller nicht leer isst, wird das Wetter schlecht…“ Ich war verwirrt, woher hatte er denn so einen Scheiss? „Willi, wer erzählt denn so eine Scheisse?“ Eine kleine Träne glitzerte in seinem Augenwinkel. „Na, die Tauben von nebenan…gestern…als ich zum Mittag drüben war…“ Jetzt fühlte ich mich schuldig. Was gebe ich den kleinen Wurm auch zu den Tauben? „Willi, hör mir mal zu: Die Tauben erzählen Mist. Das stimmt nicht. Niemand kann etwas für das Wetter. Das kommt nun mal so wie es kommt – ob du deinen Teller leer isst oder nicht.“ Er schaute mich skeptisch an. Ich überlegte wie ich ihm das begreiflich machen konnte. „Pass mal auf, Willi. Du hast gestern also deinen Teller nicht leer gegessen?“ Er nickte. „Und die Tauben? Haben die denn aufgegessen?“ Er überlegte. Dann nickte er. „Aha! Und warum soll dein Teller dann dazu beitragen, dass das Wetter schlecht ist? Wenn drei Tauben den Teller leer essen und nur einer nicht, steht es drei zu eins für gutes Wetter – vorausgesetzt es besteht ein Zusammenhang zwischen Wetter und Mittagessen. Dem ist aber nicht so.“ Er schaute mich an und in seinen kleinen schwarzen Knopfaugen flackerte ein schelmisches Blitzen auf. „Die Tauben sind ja echt blöd.“ War alles, was er dazu noch sagen wollte. Er kuschelte sich an mich und grinste vor sich hin. Mein kleiner kluger Wurm. Und mit den Tauben hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen…
Du ahnst vielleicht, worauf ich hinaus will. Die Schuldfrage ist eine müßige Sache, sie zieht nur Energie und letztendlich bringt sie keinem etwas. Einige machen es sich regelrecht zum Hobby, entweder anderen die Schuld zu geben, oder die Schuld für irgendetwas bei sich zu suchen. Dabei ergibt das überhaupt keinen Sinn. Überleg mal: Wenn ich meinem Gegenüber die Schuld für etwas gebe (zum Beispiel dafür, dass er mir mit seiner schlechten Laune den Tag ach so vermiest hat – ein Klassiker der Schuldzuweisung), gebe ich ihm in dem Moment auch eine ungeheure Macht über mich, während ich mich selbst zum Opfer mache, also mich in einer Art unmündig mache. Er hat die Macht, meinen Tag zu vermiesen. Folglich bin ich nicht in der Lage, meinen Tag unabhängig von meinem Gegenüber auf eine für mich gute Weise zu gestalten. Ich bin nicht nur ein Opfer der schlechten Laune meines Gegenübers, sondern auch noch abhängig davon. Auf der Seite meines Gegenübers sieht es so aus: Er hat eine Macht über mich bekommen, die er womöglich nicht haben wollte. Es war seine schlechte Laune, für die er wahrscheinlich einen guten Grund hatte. Und jetzt soll er sich zusätzlich auch noch für meinen schlechten Tag verantwortlich fühlen?
Das Resultat: Zwei fühlen sich schlecht. Keinem ist geholfen. Ich lehne also prinzipiell jede Form der Schuldgebung in zwischenmenschlicher Kommunikation ab. Auch solche, die sich auf Themen der Vergangenheit beziehen. „Du hast damals das und das getan, deshalb bist du Schuld an xy.“ Manchmal sprechen wir es auch gar nicht aus, sondern geben einer Person kontinuierlich die Schuld für irgendetwas. Damit laufen wir so durch’s Leben und die Schuldfrage hängt uns wie ein ständiger Begleiter nach. Mal mehr, mal weniger präsent. Und bei aller Schuldgeberei fragen wir uns nie: Warum hat der- oder diejenige so und nicht anders gehandelt? Vielleicht war es ihm einfach nicht möglich? Vielleicht konnte er seine schlechte Laune nicht verbergen, trotz Hochzeitstag, weil er gerade an einem großen Problem arbeitet? Vielleicht konnte sich meine Freundin nicht besser um mich kümmern, als ich krank war, weil es ihr selber nicht gut ging, sie es nur nie gesagt hat? Vielleicht hatte ich keine andere Möglichkeit, als Willi bei den Tauben zum Mittagessen abzuladen?
Und das Ganze geht natürlich noch weiter und lässt sich beliebig auf andere zwischenmenschliche Situationen mit mehr Tragweite adaptieren: Wer ist Schuld am Selbstmord des berühmten Sängers? Seine Frau, die ihn in den Wahnsinn trieb? Seine Eltern, die ihn nie verstanden? Oder vielleicht niemand? Ah, nein, das kommt nicht in Frage, denn die Schuld muss unter allen Umständen geklärt werden. So ist das nun mal.
Mich würde interessieren, wieviel mehr Energie man hätte und für positive oder konstruktive Dinge einsetzen könnte, wenn man nicht ständig damit beschäftigt wäre, sich oder anderen die Schuld für alles mögliche zu geben. Ob man das mal messen kann? Ich fürchte nicht…schade eigentlich…
Aber letztendlich ist diese ganze Schuldgeberei auch kein Wunder in einer Welt, in der kleinen Würmern eingeredet wird, sie könnten Schuld am schlechten Wetter haben. Und wo endet das Ganze? In Frust und Selbstmitleid. Viele suchen ja auch ständig nach der eigenen Schuld. Sie sind geradezu süchtig danach, sich Schuld aufzuladen. Ein Umstand, den ich nicht verstehe. Was hat man davon, sich für jeden Kleinkram schuldig zu fühlen? Vielleicht werde ich das irgendwann noch einmal eruieren. Dann werde ich Dir meine Ergebnisse berichten.
Jetzt werden wir hier die ersten Pflaumen zu Kuchen verarbeiten. Vielleicht schicke ich Dir ein Stück.
Bis ganz bald,
Dein Huhn
P.S.: Wie offen bin ich für Neues, fragst Du? Nun, ich denke, Du weißt die Antwort….