eins_beitrag

Liebstes Huhn,
nach einer gefühlten Ewigkeit der Abstinenz schreibe ich Dir heute endlich wieder. Bestimmt fragst Du dich, wo ich so lange gesteckt habe und warum ich plötzlich nichts mehr von mir hab hören lassen. Bestimmt warst Du sehr traurig, enttäuscht und auch wütend und das tut mir alles sehr leid. Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen…
Dennoch glaube ich: Wenn es jemand versteht, dass ich für eine Zeit verschwinden musste, dann bist Du das. Niemand sonst versteht mich so gut wie Du. Mit niemandem sonst habe ich so viel geteilt. Du bist und bleibst ein Teil von mir. Und eins kannst, nein, musst Du mir glauben: Ich habe so oft an Dich gedacht. Fast jeden Tag. Und Du hast mir so furchtbar gefehlt.
Aber trotz all des schlechten Gewissens wegen meines plötzlichen Verschwindens, musste ich diese Reise machen. Ich brauchte diese Erfahrung und ich brauchte auch den Abstand, obwohl es sich anfühlte, als ob mir jemand einen Flügel abgehackt hätte. Ohne Dich.
Vielleicht fragst Du dich, wo ich war und was ich gemacht habe. Es ist aber gar nicht so wichtig. Jedenfalls nicht jetzt. Wichtig ist nur, was diese Reise mit mir gemacht hat, was ich gelernt und erlebt habe: Es war ein anstrengendes Jahr. Aber auch schön. Und traurig. Und spannend. Jeder Tag war ein bisschen wie ein Überraschungsei (ich weiß, die magst Du nicht, aber ein anderer Vergleich fällt mir nicht ein.): Man ist freudig gespannt, weil man nicht weiß, was drin ist. Aber man hat auch ein bisschen Angst. Vielleicht ist etwas drin, was man nicht braucht, nicht mag oder vielleicht ist es auch leer? Manchmal ist man ungeduldig, reisst die Verpackung auf, zerdetscht die olle Schokolade, die ja sowieso nur nach Zucker schmeckt und öffnet hektisch das gelbe innere Plastikei. Dann schaut man hinein und es ist eigentlich egal, was drin ist. Man denkt sowieso „So eine Hühnerkacke. Was soll ich damit?“ Aber manchmal lässt man sich mehr Zeit. Die Auspackerei wird zelebriert, man will die Vorfreude so weit hinauszögern, bis man die Spannung kaum noch erträgt. Und dann knackt man vorsichtig das Innere, hofft, dass diesmal bitte das Richtige drin ist und…meistens ist es das nicht. Aber manchmal, ganz selten, ist genau das drin, was man wollte und was man sich vorgestellt hat. Und so wie das Überraschungsei war es jeden Tag in diesem Jahr. Meist hektisch, manchmal enttäuschend, manchmal freudig. Mal gab es etwas, was man überhaupt nicht gebrauchen konnte, dann wieder etwas, worauf man so lange gehofft hatte.
Während der Reise war ich oft einsam. Trotzdem konnte ich mich nicht bei Dir melden. Ich hatte das Gefühl, dass auch diese Erfahrung der Einsamkeit dazu gehören musste. Ich hatte viele schlaflose Nächte und manchmal dachte ich „Ich schaffe es nicht. Ich will nach Hause. Schluss jetzt.“ Aber irgendwie ging es dann doch. Und auch, wenn es so anstrengend war, war es eine sehr schöne Zeit. Klingt das paradox?
Nun ist diese Reise vorbei. Ich bin ein wenig traurig und denke auch wehmütig an das Abenteuer zurück. Aber ich bin auch froh, wieder da zu sein. Um jetzt wieder mit Dir, liebstes Huhn, schreiben zu können.
Ich hoffe, Du verzeihst mir.

Deine Annemarie

P.S.: Weißt Du noch: „Ich wollt ich wär ein Huhn, ich hätt nicht viel zu tun…“ Lass mich nicht alleine singen, Du weißt wie furchtbar ich singe…

Senf dazu geben