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Lieber Herr Willi,

in Anbetracht Ihres derzeitigen Zwiespalts mit sich selbst kommt der Tag der deutschen Einheit ja gerade recht. Und dann auch noch 25 jähriges Jubiläum. Ich hoffe, Sie ertragen so viel Einheit gerade. Manchmal will man das ja nicht – also dass ein allgemeiner positiver, freudiger Tenor in der Luft hängt, während man selbst gerade leidet. So ähnlich, wie wenn man Weihnachten allein verbringt, während alle mit ihren Familien in trauter Glückseligkeit Geschenke austauschen. Gut, jetzt kann man den Tag der deutschen Einheit trotz Jubiläum wohl nicht mit Weihnachten vergleichen, aber ich denke, Sie verstehen, was ich meine…
Ich habe mich gefragt, was hat es bloß mit dieser Einheit auf sich? Das hat mich ein wenig gewundert, denn jetzt wird die deutsche Einheit schon zum 25. Mal gefeiert und bisher habe ich mich noch nie gedanklich besonders intensiv damit beschäftigt. Bisher war das ein freier Tag, der mal mehr, mal weniger passend kam. Natürlich habe ich mir die Dokumentationen und Fernsehsendungen angesehen und auch den ein oder anderen Artikel gelesen, aber sonst… und plötzlich frage ich mich: Einheit, was ist das eigentlich?
Das Erste, was man bei solchen Fragen macht, ist, klaro, Google fragen. Also haben mein kleiner Willi und ich uns hingesetzt und recherchiert. Natürlich gibt es einen Wikipedia-Eintrag, der einen Haufen von verschiedenen Bedeutungen auflistet, aber wirklich hilfreich war der nicht. Das Nächste, was man findet, sind – ganz klar – Artikel aus gegebenem Anlass zum Tag der deutschen Einheit. Aber auch das hat mich nicht so richtig nach vorn gebracht. Mir ging es um etwas anderes. Und während ich gelangweilt durch die Google-Ergebnisse scrallte, kamen immer mehr Fragen: Ist Einheit das gleiche wie Zusammenschluss? Wo ist der Unterschied? Und wenn man eine Einheit bildet, geht das nur unter aktivem Zutun oder können Einheiten auch automatisch entstehen? Und wenn sich diese Einheit erst einmal gebildet hat, muss man sie dann pflegen, damit sie bestehen bleibt, so wie man Schrauben nachzieht? Ist eine Einheit ein Zusammenschluss von mindestens zwei Elementen oder ist es vielmehr eine Verschmelzung? Werden diese Elemente dann zu einem großen Ganzen oder können innerhalb einer Einheit auch Individuen bestehen?
Was den Tag der deutschen Einheit angeht, soll wohl letzteres der Fall sein: Zwei Teile eines Landes werden zu einem und verschmelzen zu einem großen Ganzen. Zumindest räumlich. Ob das dann auch gelebt wird, ist eine andere Frage.
So ähnlich ist es ja auch oft im Zusammenschluss zweier Parteien: Offiziell ist man eine Einheit, aber wird das auch gelebt? Und wie ist es schließlich mit der eigenen Einheit, der Einheit seines Ichs? Wenn man – so wie Sie gerade – mit sich selber im Zwiespalt ist, man sich also nicht wie eine Einheit fühlt, zum Beispiel, weil der Verstand etwas anderes sagt, als der Bauch. Dann fühlt man sich zerissen, kann keinen klaren Gedanken fassen, alles dreht sich. Man selber dreht sich auch im Kreis und manchmal wird einem von dem Gedrehe in einem selbst auch tatsächlich schwindelig. Man möchte vorwärts kommen und bleibt doch auf der selben Stelle. Aber damit nicht genug. Denn das Auf-der-Stelle-im-Kreis-Drehen macht unzufrieden. Und wenn man unzufrieden ist, trägt man das nach Außen. Unzufriedenheit und Unkonzentriertheit, weil problemorientiert, wirkt sich auf viele Bereiche des Lebens aus. Auf die Qualität unserer Arbeit zum Beispiel. Wenn man einen Chef hat, wird der irgendwann unzufrieden, was einen selbst im Umkehrschluss noch unzufriedener macht. Ist man selbstständig, wirkt sich das auf Kunden aus. Auch hier endet das Ganze wieder in Unzufriedenheit. Aber man muss gar nicht so weit gehen. Denn mit sich im Zwiespalt sein und damit unzufrieden sein, kann sich schon im Kleinen bemerkbar machen. Beim Einkaufen zum Beispiel, wenn ich unfreundlich zum Kassenpersonal bin und das dann auch unfreundlich ist oder weil ich schon so Negativ-fokussiert bin, dass sowieso alle unfreundlich erscheinen. Oder im Freundeskreis, weil ich nur noch rummeckere, alles doof finde. Unzufriedenheit bedingt also Unzufriedenheit. Ein Teufelskreis und schwer zu durchbrechen. Das alles, weil ich mit mir selber Uneins bin, keine Einheit bilde. Wie also, frage ich mich, soll man eine Einheit mit anderen bilden, wenn man mit sich selber uneins ist? Wie kann man Einheit wieder herstellen?
Ich glaube, nein, ich bin fest davon überzeugt, dass die einzige wirklich effektive Möglichkeit, die Einheit wieder herzustellen, Kommunikation ist. In dem Moment, in dem wir in Dialog mit jemand anders treten, machen wir auch tatsächlich einen Schritt nach vorn. Wir öffnen uns für eine neue Sichtweise. Wir sind bereit, eine neue Perspektive einzunehmen, die uns helfen kann, den nächsten Schritt zu tun. Und dann müssen wir noch Handeln. Wir müssen aktiv werden und die im Dialog gewonnene Perspektive in die Tat umsetzen. Ohne das geht’s nicht. Aber ich glaube auch, dass Schritt zum Handeln der kleinere von beiden ist. Wie oft scheitert es schon am ersten? Vielleicht ist das auch verständlich, denn in dem Moment, in dem ich den Dialog suche, muss ich mich zwangsläufig für eine neue Sichtweise öffnen. Schließlich muss ich damit rechnen, dass mein Dialogpartner eine ganz andere Sichtweise hat. Eine, die mir vielleicht nicht passt, eine, die mich dazu veranlasst, Dinge zu hinterfragen, eine, die sogar mein ganzes Weltbild ins Wanken bringen kann. Und das ist ja erst mal mit Anstrengung verbunden. Vielleicht ist es natürlich, dass man davor zurückschreckt. Aber was ist ein bisschen Perspektivwechsel gegen die Problemlage, in der ich mich wegen des Zwiespalts befinde? Was ist ein bisschen (schmerzhafte) Reflexion gegen die Aussicht auf Besserung?

Nur dem Sprechenden kann geholfen werden.

…sagt ein Sprichwort. Ich glaube, es ist mehr als nur ein Sprichwort. Und ich glaube, wenn wir das verinnerlichen würden, gäbe es viele Probleme nicht. Und deshalb sollten wir mit anderen in den Dialog treten – für eine Einheit. Mit uns selbst und mit anderen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Tag der deutschen Einheit – trotz Zwiespalt. Und hoffe, dass Ihnen vielleicht auch unser kleiner Dialog etwas helfen kann, den Zwiespalt-Teufelskreis zu durchbrechen.

Ihr Huhn

P.S. Ich finde, wir sind an dem Punkt, an dem wir uns ruhig Duzen können – was meinen Sie?

 

Senf dazu geben