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Liebste Freundin,

ist es zu glauben – schon wieder ein Jahr vorbei. Weißt Du noch? Letztes Jahr um diese Zeit habe ich mich über die guten Vorsätze zum neuen Jahr ausgelassen. Und jetzt, ein Jahr später mit etwas Abstand denke ich, was für ein zynisches Huhn ich doch war. Ist es nicht merkwürdig, wie die Dinge sich verändern, wenn man sie mit Abstand betrachtet? Es ist wie mit diesen Bildern, die es damals auf der Kornflakes Packung gab. Ich weiß gar nicht, wie sie heißen. Es waren Muster, aus denen eine Figur heraustrat, wenn man auf eine bestimmte Weise darauf geguckt hat. Ich habe das nie hinbekommen. Für mich blieb es ein rätselhaftes Muster und das hat mich jedesmal geärgert. Ich habe es wieder und wieder versucht, aber es hat einfach nicht geklappt.
So ähnlich ging es mir auch im letzten Jahr: Immer wieder habe ich versucht, einen anderen Blickwinkel auf mein Leben zu bekommen. Habe versucht, etwas anderes darin zu erkennen. Und ich habe versucht, das Denkmuster Annemarie zu durchschauen. Vieles davon habe ich Dir in meinen Briefen mitgeteilt und Du hast mir immer wieder Hinweise gegeben, damit ich eines Tages das Rätsel verstehe und es schaffe, den anderen Blickwinkel einzunehmen. Manchmal hast Du mich genervt mit Deiner Ruhe und Gelassenheit den Dingen gegenüber. Heute weiß ich, dass es nur Neid war. Ich wollte die Dinge auch gerne so sehen können wie Du. Aber das konnte ich nicht. Erst jetzt habe ich das alles verstanden. Wirklich verstanden. Ich bin Dir unendlich dankbar dafür, dass Du mir immer eine Stütze sein wolltest. Dass Du immer an meiner Seite warst. Nur habe ich das lange Zeit nicht gesehen. Oder sehen wollen. Das tut mir leid.

Liebe Huhn, ich habe mich Dir gegenüber oft unfair verhalten. Aus Neid, aus Unverständnis und weil ich zu oft mich und meine Befindlichkeiten in den Mittelpunkt gestellt habe. Ich war ein sprunghaftes Huhn und habe Dich bestimmt oft verletzt. Das habe ich jetzt verstanden. Vielleicht ein wenig spät. Aber, wie hast Du immer gesagt: Alles zu seiner Zeit. Ich brauchte diese Zeit, um klar sehen zu können. Ich musste weg, musste all das hinter mir lassen, was mir nicht gut tat. Heute geht es mir besser. Ich konnte zur Ruhe kommen und habe das erste Mal in meinem Leben eine Ahnung von dem Gefühl, angekommen zu sein. Darüber bin ich sehr froh. Und das möchte ich mit Dir teilen. Denn Du hast einen wesentlichen Teil dazu beigetragen. Ich finde, das solltest Du wissen und deshalb schreibe ich Dir auch heute nach so langer Zeit. Ich weiß, dass ich Dich sehr verletzt habe. Aber ich hoffe wirklich sehr, dass Du mir all meine Fehltritte verzeihen kannst. Ich war ein verzweifeltes Huhn: Gierig nach Anerkennung und ängstlich vor dem Leben. Ich habe mich verrannt in einer Vorstellung von mir, die ich nicht erfüllen konnte, weil sie einfach nicht stimmte. Deshalb konnte ich auch nichts in dem Muster erkennen. Die Angst hat mir die Sicht genommen. Jetzt sehe ich viel klarer und auch das wollte ich Dich wissen lassen. Du sollst wissen, dass ich jeden Tag an Dich gedacht habe und Du mir gefehlt hast. Und Du sollst wissen, dass ich Dich nie verletzen wollte.

Liebe Freundin, ich bin in Gedanken bei Dir und nichts würde mich glücklicher machen, als wenn Du mich an Deinem Leben und Deinen Gedanken Teil haben lässt…

Senf dazu geben